Alles auf Anfang Marie - Roman
ihn holen ging, drehte ich meinen Stuhl so, dass ich auch einen Blick aus dem Fenster hatte. Wenn man den Hals ein wenig verdrehte, konnte man die schaurige Treppe sehen, die zu Nicoles Wohnung hinaufführte. Vielleicht bekam er mehr mit von dem, was die Nowakowskis so taten, als ich bisher gedacht hatte? Wer sich hier aufhielt, hätte die Gelegenheit, über jeden Besucher Bescheid zu wissen, der kam und ging.
»Sind Sie eigentlich oft hier?«, fragte ich ihn, als er meine Tasse wieder vor mir abstellte.
»Täglich. Ich arbeite hier, Marie.« Mit einem Grinsen setzte er sich wieder. Jemanden, den ich besser kannte, hätte ich jetzt in die Rippen geknufft. Bei ihm schien mir das nicht so angebracht.
»Ich meine hier in diesem Raum. Sie scheinen so gut Bescheid zu wissen über das, was sich oben abspielt.«
»Glauben Sie, ich mache es zu meiner Lebensaufgabe, die Nowakowskis zu überwachen? Ich bitte Sie!« Ich hatte gerade angefangen, mich für meinen Verdacht zu schämen, als er grinsend fortfuhr. »Nein, das läuft ganz anders. Es gibt Versorgungsleitungen zwischen den Etagen, die sind nicht wirklich isoliert, deshalb hört man relativviel, wenn man hinten in der Halle am Schreibtisch sitzt. Hier dagegen hat man es vergleichsweise ruhig. Wenn die Knirpse nicht im Flur Skateboard fahren.«
Ich rührte noch etwas Milch in meinen Kaffee und dachte darüber nach, was für mich heute noch anstand. Zum Beispiel die Schulsachen für Kevin kaufen. Ich konnte mich noch aus früheren Zeiten daran erinnern, was das für ein Aufwand war – wie mochten das Familien mit mehreren Kindern finanzieren, die nicht so gut dran waren wie wir?
»Sie haben doch erzählt, dass die Miete jetzt direkt an Sie gezahlt wird«, sagte ich. »Mit wem haben Sie es da zu tun gehabt?«
Er verzog das Gesicht. »Sie geben nicht auf, was? Was haben Sie vor?«
»Ich habe veranschlagt, dass allein die Sachen, die Kevin für die Schule braucht, über hundert Euro kosten werden, wenn man Turnschuhe und alles einrechnet. Ich glaube nicht, dass Nicole das Geld hat.«
»Da dürften Sie recht haben. Rufen Sie beim Sozialamt an. Ich kann mich da an einen Herrn Möhling erinnern.«
»Vielen Dank.« Ich holte meinen Kalender aus der Handtasche und notierte den Namen.
Hannes beobachtete es amüsiert. »Sie sind so organisiert, Marie. Haben Sie schon angefangen, Chinesisch zu lernen?«
»Nein«, sagte ich gereizt. »Bis jetzt kann ich noch nicht mal mit Stäbchen essen. Aber vielleicht braucht man die ja für Krähenfüße nicht.«
»Bestimmt nicht«, sagte er lachend. »Noch nicht mal für Hühnerfüße, wenn Sie das meinten.«
Bevor ich am Nachmittag zur Buchhandlung fuhr, rief ich bei der Stadtverwaltung an und ließ mich mit HerrnMöhling verbinden. Er klang etwas abweisend und kurz angebunden und wollte erst mal wissen, in welcher Beziehung ich zu Frau Nowakowski stand.
»Ich kümmere mich in letzter Zeit ein bisschen um den Haushalt«, erklärte ich ihm. »Weil sie doch schwanger ist und das allein nicht schafft.«
»Ach, Sie sind das«, sagte er und ließ sich noch mal meinen vollständigen Namen und meine Adresse geben. »Darf ich fragen, ob Sie irgendeine Qualifikation haben, Frau Overbeck?«
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich unsicher. »Ich führe seit über siebenundzwanzig Jahren einen eigenen Haushalt. Und ich habe zwei Kinder großgezogen.«
»Aber eine sozialpädagogische Ausbildung haben Sie nicht?«
»Habe ich nicht. Braucht man das, wenn man für andere Leute spült und wäscht?«
»Im Prinzip nicht«, sagte er frostig. »Aber die Frau Nowakowski hat uns vor ein paar Tagen mitgeteilt, dass sie zukünftig keine SPFH mehr braucht, weil Sie sich jetzt darum kümmern.«
»Keine was?«
»Sozialpädagogische Familienhilfe«, erläuterte er unwirsch. »Stehen Sie in irgendeinem verwandtschaftlichen Verhältnis zur Familie?«
»Nein, nicht dass ich wüsste.«
»Sind Sie schon länger eine Freundin der Familie?«
»Ich kenne die erst seit ein paar Wochen, aber…«
»Und Sie bekommen auch kein Geld von Frau Nowakowski für Ihre Tätigkeit?«
»Im Gegenteil«, sagte ich. »Die hat doch gar keins. Deswegen rufe ich …«
»Frau Overbeck«, sagte er, ohne mich ausreden zu lassen, »warum tun Sie das denn dann?«
Ja, warum wohl? War Herr Möhling mit Hannes Hoffmeister verschwägert oder warum bekam ich plötzlich von allen Leuten die gleichen Fragen gestellt? »Es hat sich einfach so ergeben«, sagte ich. »Ich war
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