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Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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freigesprochen und Berlins Bürgermeister Albertz habe nichts, rein gar nichts getan, um dieses Fehlurteil zu korrigieren.
    Seine Worte schweben im Raum und die Musik scheint leiser geworden zu sein. Der Kellner steht abwartend abseits und runzelt die Stirn. Einige der wenigen Gäste schauen rüber.
    Andreas fragt: »Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, was das für ein Land sein muss, in dem so etwas ungesühnt bleiben kann? Ist das die Bundesrepublik, in der ihr leben wollt? Für jeden Scheiß haben wir Feiertage, Gedenktage. Wer gedenkt Benno Ohnesorg? Wer? Und ich wette, das wird auch in dreißig, vierzig Jahren nicht anders sein, dabei hätte der Junge seinen eigenen Tag verdient ... so etwas wie eine Entschuldigung!«
    »Armer Benno«, murmelt Ottilie. Ihre Augen glänzen emphatisch und etwas beschwipst vom Sekt.
    Gudrun macht eine rasche Kopfbewegung, als wehre sie eine lästige Fliege ab. »Warum kam der Todesschütze ungeschoren davon? Weil in den wichtigsten Ämtern in Deutschland die alten Nazis sitzen. Immer  noch an der Macht. Ehemalige Mörder allesamt.«
    »Ja«, flüstert Ottilie und Gina schreckt auf. »Ja, das stimmt.«
    Was sagt das Mädchen da?
    Um Himmels willen ... wie soll sie das Lotte erklären?
    Gudrun lächelt zufrieden. »Ottilie, du verstehst, was ich meine, nicht wahr?«
    »Ja, ja – ich glaube ...«, nickt Ottilie.
    Andreas drückt den Joint aus. Man kehre ihre Vergangenheit unter den Teppich, macht er sich Luft. Man scheine alles vergessen zu haben. Auschwitz, Buchenwald, Sachsenhausen und so weiter. Es gehe nur noch darum, Geld zu verdienen und auszugeben, so als wären die Gräuel des Zweiten Weltkrieges eine Art ... Betriebsunfall der deutschen Geschichte. Es habe keinen personellen Neuanfang gegeben und das sei faschistoid! Dieses letzte Wort spuckt er aus wie ein altes Kaugummi, das nach Kotze schmeckt.
    »Schaffe, schaffe, Häusle baue, sonst zählt nichts«, sagt Ottilie.
    »Ich glaube, wir ...«, Regina will sagen: Wir gehen!, aber Ottilie legt ihr die Hand auf den Arm und schüttelt still lächelnd den Kopf. »Ich bleibe noch, Gina!«
    Und da merkt Regina, dass es keine Widerrede gibt. Dass die kleine, zarte, sanfte, vermeintlich so sehr in ihrem heimeligen Milieu geerdete Ottilie einen Eigensinn hat, der sich gewaschen hat. Na gut, denkt sie sich. Dann passe ich eben aus der Distanz auf dich auf und darauf, dass du nicht zu viel trinkst.
    Andreas sagt: »Anstatt aus diesem Dreck zu lernen, kämpfen die Vereinigten Staaten in Fernost gegen den Vietcong, eine kommunistisch orientierte Rebellenbewegung.« Und das geschehe mit unerbittlicher Härte, erregt er sich, als wäre das ganz was Neues, als würde nicht jeden Tag darüber im Fernsehen berichtet.
    Er ist ein Fanatiker, erkennt Gina und sie bekommt trotz der schwülen Hitze hier drinnen eine Gänsehaut.
    Mit Flächenbombardement gehe man vor, man? die scheiß Amis, liebe Freunde! mit Agent Orange, einem Gift, das ganze Landstriche entlaubt und mit Napalmbomben.
    »Habt ihr schon mal Kinder gesehen, die von Napalm verbrannt sind? Sie leiden Höllenqualen: Ihre Haut brennt und das Fleisch gerinnt zu Klumpen. Und das alles machen die Amerikaner im Namen der Freiheit «. Er zieht ein Gesicht, starrt in die Kerze, sucht Worte, wartet noch etwas und fährt fort: »Wir, und viele andere Menschen, fordern ein sofortiges Ende dieses Völkermordes.«
    Horst nickt: »Wir alle wissen um die Mitverantwortung unserer Eltern am Genozid in Auschwitz. Also können wir keinesfalls zuschauen, wie in Vietnam abermals getötet wird.«
    »Ich erinnere mich ...« setzt Thorwald hinzu. »... dass mein Vater vor ein paar Jahren meine politischen Bücher fand.« Und er berichtet mit leiser Stimme und alle lauschen und hören ihm zu, kriechen regelrecht in seine Worte hinein. Berichtet, wie sein Vater  einen tierischen Aufstand gemacht habe, rumbrüllte und seinen Sohn am Kragen aus dem Haus zerrte und ihm befahl, auf ihn zu warten.
    »Er sammelte meine Bücher zusammen. In der Nähe unseres Hauses gibt es einen Fluss. Darüber eine Brücke. Von der aus warf mein Vater meine Bücher ins Wasser.« Thorwald blickt auf. Auf seiner Stirn glänzt Schweiß. »Ich wette, mit den Büchern von Hitler hätte er das nicht getan.«
    In Ottilies Augen glimmt Mitgefühl.
    Sie lassen einen neuen Joint kreisen. Gina winkt ab und hüstelt demonstrativ. Ottilie streckt die Hand aus.
    Gina ist schneller, greift das Ding und reicht es an Angelika weiter. Ottilies

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