Alles auf dem Rasen
die in geselliger ordnung leben
3 von personen die sich an einem orte zusammen befinden, sei es aus eigenem antrieb, oder durch einwirkung und befehl anderer, oder auch zufällig
4 das ganze menschliche geschlecht oder theile desselben in geordneten politischen verbänden und socialen einrichtungen, im gegensatz zum urzustand des wilden
5 bei tisch
Ficken, Bumsen, Blasen
A n einem warmen Abend im Mai lädt mich mein fiktiver Freund F. ins Theater ein. Auf den Werbeplakaten am Eingang sitzt die Hauptdarstellerin mit hochgerutschtem Kleid und gespreizten Beinen auf der Rückbank einer Limousine. F. ist sicher, dass uns ein großartiger Abend bevorsteht.
»Ficken, Bumsen, Blasen / Alles auf dem Rasen« war neben »Ich bin klein / mein Herz ist rein« das erste auswendig erlernte Gedicht meines Lebens, und ich werde es noch aufsagen können, wenn Goethes Zauberlehrling eines Tages der Altersdemenz zum Opfer gefallen sein wird. Manch einem Theaterregisseur scheint das schon heute so zu gehen. Hinter der Bühne hängt das, was man traditionell ein Bühnenbild nennt; es besteht aus der zehn Quadratmeter großen Photographie eines weiblichen Geschlechtsorgans. Im Vordergrund wird gesprochen, geschrien und natürlich gepoppt. Bitte noch etwas drastischer. Das ist hier kein Volkshochschulseminar für Blümchensex.
Drei Stunden später sitzen F. und ich in meinem Wohnzimmer bei Kamillentee und leiser Musik. Die Aufführung hat keinem von uns gefallen; deshalb unterhalten wir uns über Pornographie in der Kunst. Bis F. mir schließlich an die Titten greift und seinen Schwanz in meinen Mund schiebt.
»Nein!«, protestiert F. empört. »Das macht er gar nicht.«
»Natürlich nicht«, sage ich. »Es geht auch nicht darum, es zu tun. Man muss es nur hinschreiben. Abmalen. Nachspielen. Photographieren.«
»Wenn das so ist«, sagt F., »inszenieren wir eine Versuchsanordnung. Rezeptionsästhetische Feldforschung.«
Während ich im Sessel sitze und aus meiner Tasse schlürfe, wirft F. sich in Pose.
»Ficken«, rezitiert er. »Pimpern. Schwanz, Möse, Möpse. Hintern, ich meine: Arsch, und, äh …« Er überlegt einen Moment. »Penis!« Freudestrahlend breitet er die Arme aus. »Na, wie war ich? Kommt’s dir?«
»Was soll kommen?«
»Bist du geschockt?«
»Nein.«
»Verwirrt? Provoziert? Stimuliert?«
»Nein.«
»Was bist du dann?«
Ganz einfach. Wenn F. nicht so lustig aussähe, wäre ich vor allem eins: zu Tode gelangweilt.
»Eine wichtige Erkenntnis!«, frohlockt F. »Du bist dreißig Jahre alt, ledig und kinderlos und damit repräsentativ für eine ganze Generation. Und du langweilst dich bei Pornographie.«
Kein Wunder. Ich habe ein entspanntes Sexleben und Zugang zum Internet. Seit zwei Jahrzehnten lehren mich die Medien, dass sexuelle Tabuisierungen ein Zeichen mangelnder Lebensqualität sind, dass ich trotzdem im Bett keine rhythmische Sportgymnastik aufführen muss, wenn ich nicht will, dass also alles geht und nichts muss. Aber warum soll ich dann im Theater zwei Stunden lang auf eine Mega-Möse starren, von der ich nicht mal weiß, wem sie gehört? Warum soll ich Ölbilder kaufen mit Penissen drauf, Bücher lesen, in denen die Werktätigkeit von Schließmuskeln analysiert wird, und auf der Berlinale routinierten Erotikathleten bei ihren Rotlicht- und Leopardenfell-Nummern zuschauen? Wozu die Rushhour im Geschlechtsverkehr? Selbst F., den ich nur aus rhetorischen Gründen erfunden habe, weiß keine Antwort.
Die Pornographisierung der Kunst, meinen die Macher, sei nichts als ein Spiegel gesellschaftlicher Realitäten in Werbung, Web und Weltpresse. Die Werber hingegen behaupten, eine gesteigerte Nachfrage zu bedienen, die auch in Literatur und Theater zum Ausdruck komme. So spiegelt einer den anderen, und in der Mitte befindet sich … nichts?
Dogmatisch heißt es mancherorts, ungeschminkter Sex sei künstlerisch unverwertbar. Sein Abbild könne nichts anderes transportieren als Erregung, Ekel oder Schmerz. Direkte körperliche Reaktionen also, die viel mit Schlüsselreiz und Triebreflex zu tun haben, dafür wenig mit Kunstrezeption. Anders gesagt: Wer vögelt, hat nichts zu erzählen. Es sei denn, die Hauptfigur rutscht dabei auf einem vollen Kondom aus oder fällt aus dem Bett. Haha.
Stimmt nicht, meint F., es gebe Gegenbeweise. Und das nicht nur bei Henry Miller. Auch junge Bücher wie Politics von Adam Thirlwell machten Sex zu einem Schauplatz statt zur undurchsichtigen Oberflächenbemalung auf
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