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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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wie der Ibis im Nebel.
    5. Bibel und BGB
    Sprache, die, anders als oben definiert, nicht dem Austausch von Gedanken, sondern eher ihrer Geheimhaltung dient, ist nicht selten ein Idiom der Macht. Die katholische Kirche hat bewiesen, dass sich Glaube und Folgsamkeit durch das Vorenthalten von Wissen unterstützen lassen. Die lutherische Übersetzung, die den Inhalt der Bibel begreiflich und hinterfragbar machte, war neben einem reformatorischen Ereignis auch ein revolutionärer Akt.
    Ähnlich der Religion ist das Recht ein gesellschaftliches Ordnungssystem; wie diese beinhaltet es machterzeugende und machterhaltende Mechanismen. Gewisse sprachliche Hürden, die den gemeinen Bürger vom Verständnis des heiligen Textes ausschließen, sind heutzutage nicht mehr offiziell beabsichtigt, dem Wirken und Weiterbestehen des Systems jedoch nicht abträglich. Darüber hinaus zeigt sich in der Formelhaftigkeit der mächtigen Rede ihre grundsätzlich konservierende Funktion. Ein Normenkomplex ist auf Dauer angelegt, er muss sich selbst und die in ihm niedergelegten Werte bewahren, und seine Sätze sollen übermorgen noch in etwa dasselbe bedeuten wie heute. Modeworte kommen und gehen, der Aphorismus bleibt. So wurde das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) über tausend Jahre alt und die Bibel noch ein bisschen älter.
    Allein, deutsche Gesetze sind nicht auf Lateinisch verfasst. Ein guter Demokrat weiß, dass der Erlass von Normen in einer fremden Sprache gegen unsere Verfassung verstieße. Zugunsten der Rechtssicherheit bedarf demokratisches Recht der klaren und eindeutigen Formulierung. Seine Legitimität hängt nicht zuletzt von der Möglichkeit ab, vom Rechtsunterworfenen verstanden zu werden. Klar und eindeutig? Man drücke dem Ibis im Nebel eine Sammlung des deutschen Zivilrechts in die Hand und frage ihn, an wen, wie und wann er sich nach einer geplatzten Kinovorstellung wegen seiner nutzlos gewordenen Eintrittskarte wenden kann. Er liest und liest und hat keine Ahnung.
    6. Gefahr, Genuss und Guter Glaube
    Wieso eigentlich? Unsere Gesetze als eine Form, vielleicht sogar als das Substrat juristischen Sprechens enthalten keine Vokabeln wie Granulomatose oder Gnathoschisis. Stattdessen finden wir einfache Wörter wie Gefahr, Genuss und Guter Glaube, Wörter, die wir kennen. Kennen wir sie?
    Ein Blick ins Wörterbuch. Gefahr, das ist drohendes Unheil. Unter Genuss versteht man das Schwelgen im Angenehmen. Aber was ist dann für den Juristen ein Gefahrübergang oder der Genussschein? Und heißt Guter Glaube, dass man an das Gute glaubt?
    7. Juristische Textrezeption
    Das juristische Sprechen entkoppelt Wörter von ihrer ursprünglichen Bedeutung. Die Fachterminologie speist sich aus dem allgemein gebräuchlichen Sprachmaterial, kreiert eigene Definitionen und schafft auf diese Weise einen spezifischen semantischen Gehalt. Wörter wie »Gefahr«, »Genuss« und »Glaube« sind innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes mit bestimmten Inhalten belegt. Beim Leser oder Hörer erregen sie Assoziationen, die seinem individuellen Erfahrungsschatz entsprechen. Sie rufen Gefühle, Vorstellungen, Erinnerungen hervor und werden vor diesem Hintergrund entschlüsselt.
    Der Jurist lernt ein anderes Verfahren der Textrezeption. Es folgt den Prinzipien der Auslegung. Nach dem Grundsatz, dass eine juristische Regel in einer Vielzahl von Fällen Gültigkeit und eine möglichst einheitliche Bedeutung haben muss, ist es notwendig, ein überindividuelles, »mechanisches« Deutungsverfahren zu befolgen. Der Jurist darf nicht lesen und verstehen, wie er will und was er will. Er muss sich einer Methode bedienen, die er mit allen Kollegen aus der Branche teilt. Deshalb liest er anders als der Normalbürger.
    Und spricht auch nicht so.
    8. Sondern, zum Beispiel, so:
    Nach einer Gesamtbetrachtung der Umstände und Abwägung der widerstreitenden Interessen unter Einbeziehung des allgemeinen Verkehrsinteresses kann festgehalten werden, dass für den Juristen die sprachliche Anerkennung seiner lateinischen Wurzeln eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt. Des Weiteren gilt zu berücksichtigen, dass der Jurist gesetzestextlektürenbedingt seine eigenen Wörterbücher pflegt. Hinzu kommt, dass er ein Leben lang gezwungen ist, sich kurz zu fassen, weshalb er jederzeit eine Substantivierung dem längeren Nebensatz vorzieht. Einem In-Frage-Stellen des soeben Hergeleiteten könnte nur mit größter Verwunderung begegnet werden.
    In der Praxis mag es vorkommen, dass

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