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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Erfahrungswerte. Ein wenig Feldforschung in der juristischen Bibliothek der Universität Passau ergibt: Zumindest kleiden sie sich konservativ. Keine Punks, keine Ökolatschen, kein Grunge und kein Techno, höchstens ein paar gebremste Girlies unter den jüngeren Semestern. Zu Beginn des Studiums wunderte ich mich über die vielen Anoraks mit grüner Wachsbeschichtung und Cordkragen. Ich wusste noch nicht, was eine Barbour-Jacke ist.
    Anders als im ritualbewussten Großbritannien muss sich ein Jurist hierzulande keine Zopfperücke über den Kopf stülpen, bevor er den Gerichtssaal betritt. Uns bleibt die traditionelle Robe, unter der sich im Normalfall ein klassisch geschnittenes Kostüm oder der Anzug in gedeckten Farben verbirgt. Statusbewusstsein? Standesdünkel? Oder hören Mandanten einfach aufmerksamer zu, wenn der Rechtsbeistand in feines Tuch gehüllt ist? Der dress code illustriert eine Autorität, die dem Recht innewohnt, als dessen Vertreter wir Juristen uns begreifen. Wir alle sind Angestellte derselben Firma Justitia und Partner . Wer der corporate identity schon im ersten Semester entspricht, wird »Kollege« genannt; wer im Hörsaal noch immer mit dem Kugelschreiber Herzchen auf die Jeans malt, ist nur ein »Kommilitone«.
    Beiläufig äußerte Professor G. einmal in seiner Vorlesung: »Das Recht ist notwendig konservativ.«
    Ich hatte schon Luft geholt, als ich begriff, dass diese apodiktische Aussage nicht im politischen Sinn gemeint war.
    Das Recht an sich, wollte Professor G. sagen, ist in der Konstruktion statisch, in der Zielsetzung bewahrend. Eine Norm muss schon da sein, bevor sich der Sachverhalt ereignet, der an ihr gemessen werden soll. Dies ergibt sich nicht erst aus dem demokratischen Rückwirkungsverbot, sondern schon aus der Natur der Sache. Eine Regel, die nicht befolgt werden kann, ist sinnlos. Damit man sie befolgen kann, muss die betreffende Vorschrift im Moment des Ereignisses bereits existieren. Wie sollte der Bürger sich zurechtfinden, wenn jeden Tag etwas anderes verboten wäre? Die Effektivität einer Regel verlangt Geltungsdauer und bedingt somit eine gewisse Änderungsfeindlichkeit. Ein System, innerhalb dessen wechselnde Vorfälle mit Hilfe eines zum Teil seit Jahrhunderten bestehenden Instrumentariums bewertet werden sollen, ist darauf angewiesen, sich selbst zu konservieren.
    Die Welt verändert sich, die Regel bleibt. Das Leben schreitet also dynamisch voran, zieht an seinen Füßen den statischen Betonklotz rechtlichen Regelwerks mit sich und wird dadurch auf ein erträgliches Tempo gebremst. Bestenfalls mit erheblicher Verspätung ist bei heftigem Zerren in eine Richtung ein mühseliges Mitschleppen der Fessel möglich: wenn das Faktische so lange normativ tätig wird, bis auch das geschriebene Recht nicht mehr widerstehen kann. – Ja, ganz bestimmt. Und Frauen mit blaugefärbten Haaren können keine guten Juristinnen sein.
    Betrachtet man den auf »Regel« und »Folgen« reduzierten Vorgang bildlich, drängt sich eine abweichende Vorstellung auf. Das »Befolgte«, das schon Zuvorgekommene müsste als etwas Vorausgehendes betrachtet werden. Als Träger einer leitenden, richtungsweisenden Funktion. Ist Recht also die visionär-normative Ausformulierung einer zukunftsträchtigen Idee, ein nie ganz zu erreichendes Ideal, dem es nachzulaufen gilt, die ewige Karotte vor der Nase des Esels? – Na ja. Und gute Rechtswissenschaft verlangt notwendig Schlaghosen.
    Die Aussicht von der Warte zweier forcierter Extrempositionen legt nahe, was auch ein Blick auf die Wirklichkeit ergeben hätte: So einfach ist das nicht. Wie so oft im Leben gibt es nicht das eine noch das andere, sondern nur das Zusammenspiel zweier gegensätzlicher Kräfte. Eine Bestandsaufnahme mit dem Ziel, die Bedeutung des Rechts für Entwicklungsprozesse in der heutigen Gesellschaft herauszufinden, kann folglich nur zu einer graduellen Festlegung auf einer Skala zwischen »statisch« und »dynamisch« führen. Und gute Juristinnen haben eben mehr oder weniger blaue …
    Schnitt. Untersuchen wir in einer flüchtigen historischen Rückschau die Stellung des Rechts im Moment hochgradig verdichteter politischer Dynamik: im Moment der Umwälzung, der Revolution. Im Jahr 1789 ist das Recht ein monarchisches Regelsystem, innerhalb dessen eine Vielzahl von Rechtsunterworfenen einer rechtschöpfenden Einzelperson gegenübersteht. Im Umsturz trifft das Recht als statische Kraft auf eine eskalierende soziale

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