Alles auf dem Rasen
Dynamik, es siegt der Stärkere – im Beispiel zumindest teilweise die Revolution –, und das Recht verliert mit der Beseitigung des Hoheitsträgers vorübergehend Geltungsgrund und Wirkung.
Im Zuge der Kräfteneuverteilung erhält das Recht jedoch sogleich eine entgegengesetzte Rolle. Mit der Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789 erlangt eine politisch-philosophische Idee normative Verankerung, ohne dass in der gesellschaftlichen Realität eine Entsprechung im soziokulturellen Bewusstsein vorhanden wäre. Normen werden an den Anfang einer angestrebten Entwicklung gesetzt und sollen regulativ verändernd auf die Gesellschaft einwirken. Es ist zu beobachten, wie das Recht im Verlauf eines gesellschaftlichen Umbruchs zwei ganz unterschiedliche Funktionen erfüllt.
Damit ist Professor G. widerlegt (Recht ist nicht notwendig konservativ) und muss auf eine altbewährte Formel verwiesen werden, die jeder zutreffenden juristischen Antwort vorausgeht: Es kommt darauf an.
Aber worauf kommt es an? Vielleicht darauf, wo es herkommt. Sind Rechtsquelle, Rechtsetzungsbefugnis und das Verfahren des Normenerlasses verantwortlich für den statischen oder dynamischen Charakter eines Rechtssystems?
Legislative Kompetenz ist Teil der staatlichen Gewalt. Im demokratischen System geht diese Gewalt vom Volk aus. Auch die Rechtsmacht liegt demnach originär beim Volk und wird von diesem an Repräsentativorgane abgetreten. Im parlamentarischen Normenerlassverfahren werden die Anliegen von Interessengruppen abgewogen, bis eine Kräfteverteilung erreicht ist, die eine Mehrheitsentscheidung möglich macht.
Ein solches Procedere ist einerseits in hohem Maße durchlässig für gesellschaftliche Entwicklungen und die sich daraus ergebenden Interessen. Andererseits ist es behäbig in seiner Arbeitsweise und hat retardierenden Effekt. Damit ist das zentrale Paradoxon benannt, das die Rechtserschaffung im modernen demokratischen Staat beherrscht.
Eine komplexe, von ansteigendem Wandlungstempo bestimmte Gesellschaft verlangt nach einem Recht, das einerseits dynamische Impulse in sich aufnimmt und in entwicklungsfördernder Geschwindigkeit umsetzt, andererseits aber die demokratische Interessenabwägung abbildet. Und dann soll es auch noch die unhandlichen Wischiwaschi-Erscheinungen schnell festgeklopfter Kompromisse vermeiden. Das sind gleich drei Wünsche auf einmal. Deshalb steht dem Ruf nach einem dynamischen Recht an erster Stelle nicht die bewahrende Natur eines änderungsfeindlichen Regelsystems entgegen. Sondern die demokratische Idee selbst, die eine plurale Kristallisation von Meinungen und deren Vertretung im Legislativorgan verlangt. Am negativen Endpunkt des parlamentarischen Gedankens steht die bis zur Perversion verkomplizierte Entscheidungsfindung – und damit der Stillstand.
In den Disziplinen »schnelles Recht« und »eindeutiges Recht« wäre niemand so erfolgreich wie ein Tyrann, der das Normenerlassverfahren auf die Äußerung »Gute Idee, so wird’s gemacht« beschränken könnte. Gleichzeitig ist nichts so unempfindlich gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen wie die Ein-Mann-Legislative, die erfahrungsgemäß vor allem ein Interesse vertritt: das der persönlichen Machterhaltung.
Für eine kurze Rast mit Panoramablick ziehen wir uns auf ein hügelförmiges Zwischenergebnis zurück. Wenn die Rechtsmacht originär bei der größtmöglichen Personenmehrheit liegt, entspringt das Recht zwar einem hochdynamischen Ausgangspunkt, wird aber statisch durch ein um Gleichgewicht bemühtes Verfahren, in dem die überschießende, effektiv verändernd wirkende Kraftmenge klein ist. Liegt die Rechtsmacht hingegen bei einer einzelnen Person, ist zwar eine große Kraftmenge frei, die dynamische Entwicklungen ermöglichen würde – der Ausgangspunkt aber ist ein in sich ruhender, statischer, so dass es an Durchlässigkeit für entsprechende Impulse fehlt.
Ein Blick in die Runde führt zu der Frage: Steht dieses Paradoxon dem Versuch entgegen, unser Rechtssystem der zunehmenden Wandlungsgeschwindigkeit der Gesellschaft anzupassen? Das hieße: nicht mehr Demokratie, aber auch nicht weniger?
Am Horizont bewegt sich was. Mit zusammengekniffenen Augen erkennen wir: Es ist die Europäische Union (EU). Der hartnäckigen Behauptung überbordender Brüssel-Bürokratie zum Trotz arbeitet dort nur eine relativ kleine Gruppe Menschen. Was darauf schließen lässt, dass sie bei der Konstruktion und Errichtung des
Weitere Kostenlose Bücher