Alles auf dem Rasen
lauten die wohlklingenden Parolen der Unabhängigkeit. Und wenn ich erkläre, dass ich ein attraktives Auslandsangebot ablehnen würde, wenn mein Freund nicht mitkommen kann, stoße ich auf zweifelnde, ja misstrauische Gesichter. Habt ihr Kinder? – Nein, keine Kinder. – Du bist doch eine starke Frau, bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Ist das nicht Abhängigkeit?
Ist es. Und ich bin stolz darauf, denn sie hat viel Mühe gekostet. Die physikalische Gleichung ist einfach: Wenn Stabilität von außen abnimmt, muss sie durch innere Stabilität ersetzt werden, sofern das System nicht zusammenbrechen soll. Das Aushalten von Unsicherheit und Angst kostet viel Kraft, die ich für schönere Dinge gebrauchen kann. Abhängigkeit regiert ohnehin in die meisten zwischenmenschlichen Beziehungen hinein – warum sollte ich sie leugnen, allein dem Bild vom tapferen Einzelkämpfer zuliebe?
Meine Freundin X ist der Prototyp einer strahlenden, hochqualifizierten, selbständigen Frau. Sie war viele Jahre mit einem Mann zusammen, dem es gelungen war, ihr zu suggerieren, sie sei dumm. Er hatte ihre versteckte Sorge entdeckt, eine Hochstaplerin zu sein, ein Versagermodell, das sich in höhere Kreise eingeschlichen hat, und machte sich unentbehrlich zur Aufrechterhaltung der Fassade. Meine andere Freundin Y, zwei Uni-Abschlüsse, drei Fremdsprachen, Auslandsaufenthalte in allen Teilen der Welt, ließ sich fast ebenso lang von einem Typ herumschubsen, der nicht bereit war, sich vollkommen zu ihr zu bekennen. Im ständigen Wechselspiel von Abstoßung und Anziehung hatte er sie sicher. Eine Dritte verschrieb sich dem ersten Mann, der ihr nach einem Haufen unglücklicher Affären das Vexierbild von Bürgerlichkeit und Ruhe bot – und lässt sich jetzt in ein Leben pressen, das ihr nicht entspricht. Ich selbst habe erlebt, was es bedeutet, von der Sucht eines anderen abhängig zu werden, und endete irgendwann vor der letzten Alternative: mit fliegenden Fahnen vor einem Trümmerhaufen davonzulaufen.
Die vernünftige Konsequenz aus diesen Erfahrungen ist nicht das, was in den Magazinen steht. Es bringt nichts, die Abhängigkeit zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser, solange wir sie nötig brauchen als letzte Bastion gegen die Beliebigkeit. Man kann fast alles domestizieren, wenn man bereit ist, ihm ins Auge zu schauen, gleichgültig, ob es sich um ein Tier handelt oder um ein Gefühl. Mit ein bisschen Arbeit, Aufmerksamkeit und Feingefühl lässt sich ein Gleichgewicht herstellen. Zur Belohnung gibt es dann auch ein schöneres Wort: Symbiose.
Er ruft nicht gern bei Behörden an und ist nicht imstande, ein simples Formular auszufüllen. Ich gehe in die Knie, wenn ich in einem Supermarkt einkaufen soll, der größer ist als ein Tante-Emma-Laden. Die eine hat Angst vor Spinnen, der andere vor abgelaufenen Haltbarkeitsdaten. Er bekommt Blackouts, wenn er in einer Gruppe von Leuten etwas erzählen soll, ich kann nicht einschlafen, ohne dass er mir vorliest. Ich begutachte seine Photos. Er lektoriert meine Texte. Wir verstehen die Welt nicht, wenn wir nicht gemeinsam die Zeitung lesen. Kein Wunder, dass wir am Rad drehen, wenn wir uns ein paar Tage nicht sehen. Manchmal muss das sein. Meist lässt es sich vermeiden.
Ein solches symbiotisches Geflecht lässt sich weiter auffächern bis hinab zu Bereichen, über die ich an dieser Stelle nicht reden will. Beim Gedanken daran, dass er mich verlassen könnte, dreht sich mir der Magen um. Es gäbe kaum eine Ecke, die sich retten ließe, nichts, das mir für mich selbst verbliebe. Ich müsste von vorn anfangen, ein neuer Mensch werden – der Super-GAU. Das Geheimnis liegt darin, dass es ihm nicht anders erginge, und dieses Bewusstsein lässt uns ruhig schlafen und macht unsere Küsse arglos und süß. Wir brauchen einander im schrecklichsten Sinn des Wortes. Na und? Der Horror des Verlustes wächst proportional zum Glück dessen, was man sein Eigen nennt, und eine gesunde Abhängigkeit ist allemal haltbarer als ein Trauschein mit Ausstellungsdatum aus dem 21. Jahrhundert. Die Liebe ist immer von Furcht und Zweifel durchzogen. Sie braucht eine Krücke, etwas, das sie stützt. Nennen wir es Abhängigkeit. Nennen wir es Symbiose. Einander-Brauchen. Die volle Hinwendung zum anderen Ich, die Ergänzung, die Perfektionierung des fehlerhaften Selbst in der Gemeinsamkeit. Das Ergebnis ist dasselbe: Ich bin keine unabhängige Frau. Ob ich emanzipiert bin, stark, selbstbewusst – ich
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