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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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anderen Ende der Fahnenstange. Er stellt die Ereignisse aus der Vogelperspektive dar, unabhängig vom Wissensstand einzelner Charaktere, in Ort und Zeit nicht zwingend an deren fiktive Biographien gebunden. Das aber müsste in lakonischen Fünf-Wörter-Sätzen oder verträumt-sarkastischem Prenzlauer-Berg-Duktus genauso möglich sein wie in seitenlangen Schachtelsatz-Gebäuden. Trotzdem ist die Ansicht weit verbreitet, man könne »so«, nämlich wie Musil oder Mann, »heutzutage« nicht mehr erzählen. Muss man ja auch nicht. Aber was hat das mit der Erzählperspektive zu tun?
    Der Mensch, von dem hier die Rede ist, hieß Ulrich. Gott, wie es nervt, einen Typen ständig duzen zu müssen, obwohl man ihn kaum kennt! Dieser Ulrich hatte schon als pickliger Jüngling bewiesen, wie er drauf war, in einem Schulaufsatz nämlich, wo es um Patriotismus ging. Patriotismus war in Österreich ein großes Ding.
    Oder:
    Der Mann hieß Ulrich. Es ist nicht leicht, jemanden mit Vornamen anzureden, den man nicht kennt. Ulrichs Gesinnung war wohlbekannt. In der Schule hatte er einen Aufsatz über Patriotismus verfasst. In Österreich ein besonderer Gegenstand.
    Der Sache nach kann auktoriales Erzählen kein stilistisches Problem sein. Aber vielleicht fühlen sich junge Autoren aus anderen Gründen nicht wohl in der auktorialen Haut und geraten deshalb beim halbherzigen Versuch, eine omnipotente Haltung einzunehmen, leicht in Gefahr, sich als Stimmenimitatoren zu betätigen. Lächerlich wäre dann nicht die auktoriale Haltung, sondern deren misslungene Kopie; abschreckend nicht ein bestimmtes Erzählverhalten, sondern das Unvermögen, es originär zu betreiben.
    4. ICH will nicht Gott sein. ICH ist Demokrat.
    Ein auktorialer Erzähler ist Herr in der Welt seiner Geschichte. Er ist den Geschehnissen nicht ausgeliefert, sondern steht über ihnen. Selbst wenn er in den vorgetragenen Ereignissen eine Rolle spielt, hat er im Moment, da er sich zurücklehnt und alles berichtet, das Gröbste überstanden und blickt darauf mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen, der Anfang und Ende kennt. Der auktoriale Erzähler weiß mehr als Leser und Figuren und zeigt das. Er ist im Text die unanfechtbare Autorität.
    Zu der Zeit, da sich ein Erzähler meiner Gedanken bemächtigte und ich mich gemeinsam mit Momo oder den drei Fragezeichen auf der falschen rezeptionstheoretischen Ebene zu bewegen begann, war die Welt vielleicht nicht in Ordnung, aber sie hatte eine Ordnung: Ich war klein, und es gab einen Haufen Wesen, die im Vergleich zu mir allmächtig und allwissend waren. Kinder- und Jugendliteratur ist heute wie früher häufig auktorial erzählt und scheint auf diese Weise einer Weltordnung zu entsprechen, die in einer frühen Lebensphase immer noch Gültigkeit besitzt.
    Später lernte ich, dass Gott entweder tot ist oder eine Frage der individuellen Selbstverwirklichung. Vater und Mutter, Klassenlehrer und Bundeskanzler sind nicht notwendig tot, aber auch nur Menschen und damit weit entfernt von allwissend oder omnipotent. Kritisches Nachfragen im Unterricht endet nicht in der Ecke oder beim Nachsitzen, sondern wird mit guten Noten belohnt. Wohin es führt, wenn einer führt, studieren wir im Geschichtsunterricht in aller Ausführlichkeit.
    Seit dem Zweiten Weltkrieg wird innerhalb unseres demokratischen Systems versucht, den Einzelnen nicht über seinen Platz innerhalb einer hierarchischen Struktur zu definieren. Wir sind mehr als Sprossen irgendeiner Hühnerleiter. Die Erzählperspektive ist eine Blickrichtung, eine bestimmte Sicht auf die Welt, die von persönlicher Identifikation und Sozialisierung beeinflusst wird, und als solche setzt sie sich ins Verhältnis zur gesellschaftlichen Realität.
    Einer erzählenden Autorität fehlt heute in Familie, Schule und Politik die Entsprechung. Ohne feststehende, hierarchisch gestützte Ordnungsprinzipien gibt es in unserem täglichen Erleben vor allem das der Umwelt und sich selbst ausgelieferte ICH und darüber den blauen oder grauen Himmel.
    Warum also sollten wir beim Schreiben die Haltung eines Über-ICHS simulieren, das alles weiß und deshalb regiert? Warum sollten wir beim Lesen eine solche Haltung akzeptieren? Ist auktoriales Erzählen nicht irgendwie »undemokratisch«?
    5. Weil ICH nervt. Weil ICH beschränkt ist wie die Menschen selbst.
    Und weil es Genuss bereitet, etwas erzählt zu bekommen, ohne im engen Kopf einer einzelnen Figur kauern zu müssen. Man schlägt das Buch auf, sitzt

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