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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Schriftsteller und seine Figuren – denken und fühlen. Allein deshalb darf die Literatur auf dem Gebiet der Politik nicht durch den Journalismus ersetzt oder verdrängt werden, und sie soll sich nicht hinter ihrem fehlenden Experten- und Spezialistentum verstecken. Sie steht vielmehr in der Verantwortung, die Lücken zu schließen, die der Journalismus aufreißt, während er bemüht ist, ein angeblich »objektives« – und deshalb immer verfälschendes – Bild von der Welt zu zeichnen. Damit hat die Literatur eine Aufgabe, an der sie wachsen kann, und hier liegt der Weg, den ich einzuschlagen versuche. Ich möchte den Lesern keine Meinungen, sondern Ideen vermitteln und den Zugang zu einem nichtjournalistischen und trotzdem politischen Blick auf die Welt eröffnen. Auch wenn in unseren ruhigen Zeiten die Nachfrage nach Helden – Gott sei Dank! – gering ist, hat jede Generation ihr Anliegen und jedes Jahrzehnt seine Ideen, Probleme, Schrecknisse und Hoffnungen. Es gibt keinen Grund, damit hinter dem Berg zu halten.
    2004

Sag nicht er zu mir
    1. ICH schreibt ein Buch. ICH hat viel erlebt, deshalb kann ICH auch viel erzählen.
    Zu Beginn ein bisschen Statistik. Die beiden im Frühjahr 2002 erschienenen Anthologien 20 unter 30 (DVA) und Vom Fisch bespuckt (Kiepenheuer & Witsch) versammeln insgesamt 57 Erzählungen von 57 jungen und sehr jungen, weiblichen und männlichen Autoren.
    Darunter sind 36 Ich-Erzählungen. Eine ist von mir.
    Das macht 64,9 %. Der Anteil personaler Erzählungen, bei denen die Ich-Perspektive durch ein »er« oder »sie« etikettiert wird, liegt bei 22,8 %. Eine Geschichte benutzt »man« im Sinne von »ich«, und bei den verbleibenden sieben Texten ist die Erzählhaltung schwer bestimmbar. Das Durchschnittsalter der Autoren liegt bei 29,3 Jahren. Wie hoch ist die Raumtemperatur?
    Und wer ist eigentlich dieser ICH, der zwei Drittel der Gegenwartsliteratur auf dem Gewissen hat?
    Als ich klein war, gab es ICH noch nicht. Ohne dass es mir richtig bewusst gewesen wäre, bedienten sich meine Gedanken eines Erzählers. In meinem Kopf gab es keine Gegenwart, sondern nur episches Präteritum, und für mich selbst kein ICH, sondern die dritte Person. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, konnte ich zum Beispiel denken: Die letzte Stunde war ausgefallen. »Hoffentlich gibt es Leberkäse zum Mittagessen«, dachte sie und schob den Schlüssel ins Schloss der Haustür.
    Brüllte ich dann »Hallo Mama!« in den Flur, fügten meine Gedanken rief sie hinzu. ICH existierte nur in der wörtlichen Rede: »Da bin ich schon«, sagte sie, als die Mutter in den Flur trat.
    Wann das angefangen hat, weiß ich nicht mehr. Seit ich lesen konnte, verschlang ich Unmengen von Büchern, und bei Michael Ende oder den drei Fragezeichen kam ICH nicht vor. Außer in der wörtlichen Rede.
    Als mir klar wurde, dass ein Erzähler sich meiner Gedanken bemächtigt hatte, war ich alt genug, um an eine psychische Störung zu glauben. Ich arbeitete daran, mir diese Art des Denkens abzugewöhnen, ich zwang mich, von mir selbst in der ersten Person zu denken: ICH zu benutzen.
    Wie man sieht, ist es gelungen. Heute bin ich in der Lage, sogar einen Essay über Erzählperspektiven in der Ich-Form zu schreiben. Jetzt, da ich ICH habe, werde ich ICH nicht mehr los. Und das scheint, rein statistisch, zwei Dritteln der schreibenden Bevölkerung nicht anders zu gehen.
    »Im Gedenken an alle, die beim Versuch, auktorial zu erzählen, den Verstand verloren« – dieses Motto stellte mein Freund F. neulich einer seiner Kurzgeschichten voran.
    2. ICH findet sich selbst am interessantesten auf der Welt. Das hat ICH so gelernt. Vielleicht ist ICH Solipsist.
    Die Ich-Erzählung ist keine Erfindung der neunziger Jahre. Es gibt sie schon lang und in allen Variationen. Das ICH kann Hauptfigur des Geschehens oder peripherer Beobachter sein, es kann ein Erlebnis aus der Erinnerung berichten oder vom Hörensagen, es kann nur im ersten oder letzten Satz einer Erzählung auftauchen oder in jeder Zeile. Wie man spätestens im Deutschgrundkurs gelernt hat, haben die ICHS aller Zeiten eines gemeinsam: Sie sind nicht mit dem Autor identisch.
    Sind sie nicht? Ein Blick in die biographischen Tabellen der genannten Anthologien zeigt: Der Altersunterschied zwischen ICH und seinen Schöpfern und Schöpferinnen bewegt sich meist innerhalb einer Spanne von wenigen Jahren. In den Geschichten wird gebadet, im Taxi gefahren und Geburtstag gefeiert, Lady Di

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