Alles auf dem Rasen
sogleich mit dem Rücken am Kachelofen, vor einem Lagerfeuer oder unter Deck eines Überseedampfers. Und betrachtet eine ganze Welt. Der auktoriale Erzähler kennt seine Geschichte und ihre Bedingungen, sonst würde er sie nicht präsentieren. Er hat sie erlebt oder erfunden, und er hat es nicht nötig, das Subjektive daran ständig in den Vordergrund zu stellen.
Ein großer Teil der Leserschaft scheint sich nach dieser Art des Erzählens zu sehnen. Wenn sie in Deutschland nicht zu haben ist, wird sie importiert. In den letzten Jahren stand lateinamerikanische Literatur hoch im Kurs. Deren Autoren haben im Text erheblich weniger Probleme mit Erzählpatriarchen. Dafür in der wirklichen Welt mit Vätern, Göttern und Diktatoren. García Márquez wollen alle lesen. Paradoxerweise will hier aber niemand so schreiben.
Wir fühlen uns nicht einer zwingenden Übermacht ausgeliefert, sondern der allzu großen Beliebigkeit, dem berühmt-berüchtigten anything goes . Die Freiheit der Wahl bringt die Qual mit sich, unablässig Entscheidungen treffen zu müssen. Umso mehr kann das Eindringen in die von zentraler Instanz geordnete Welt eines Romans Erleichterung bedeuten. Man lässt sich alles zeigen und erklären, wird beim Lesen zum Kind, entledigt sich ungestraft für ein paar hundert Seiten jeder Verantwortung. Frei von Nebenwirkungen. Symptome einer auktorialen Persönlichkeitsspaltung nur bei Überdosierung: »Hallo Mama«, rief sie, »ich bin schon da.«
6. ICH beschreibt, was ICH sieht. Was ICH nicht sieht, braucht der Autor nicht zu beschreiben.
»Die volle erzählerische Möglichkeit«, sagt mein Freund F., »liegt bei der auktorialen Instanz. Und genau da liegt auch das Problem.«
Beim auktorialen Erzählen kann die Handlung an beliebig vielen Orten spielen, abwechselnd, gleichzeitig, hintereinander, in beliebig vielen Zeiten und Epochen, ohne dass die Auswahl beschränkt wäre durch den Lebensweg, das Wissen und die Wahrnehmung einzelner Figuren. Der Autor steht auf der Schwelle eines unbegrenzten Spielfelds, eines Paradiesgartens. Totale Freiheit.
Seit wir sie haben, stehen wir mit der Freiheit auf ebenso schlechtem Fuß wie ehemals mit den Autoritäten, die wir nicht mehr haben. Antiproportional zum Wachsen der Möglichkeiten sinkt die Fähigkeit zu wählen. Alles kommt in Frage. Da ist es wieder: anything goes.
Entscheidungen werden anhand und mit Hilfe von Prinzipien getroffen, und auch davon besitzen wir nicht mehr viele. »Du sollst nicht töten« gilt weiterhin, hilft aber nicht beim Verfassen eines Romans. Woher soll der Autor wissen, was ins Buch gehört und was nicht? Ganz einfach: Das Gute ins Töpfchen. Pro bono contra malum . Nur lässt das Gute sich schlecht identifizieren, wenn es nicht einmal gültigen ästhetischen Kriterien gehorchen kann. Erst recht diktieren Moral und Ethik uns nichts in die Feder, und politische Intentionen sind etwas für Ostalgiker und übrig gebliebene Feministinnen. Sicher: Das zu erzählende Geschehen stellt Forderungen, die es beim Schreiben einzulösen gilt. Aber das Geschehen ist nur das Skelett des späteren Textes, und entgegen einer verbreiteten Auffassung ergibt sich der große Rest auch beim begabten Schriftsteller nicht etwa von selbst. Die totale Freiheit ist schwer zu verwalten.
Einen überschaubaren Radius im Land der unbegrenzten Möglichkeiten schafft das ICH. Es trifft eine Vorselektion: Eine Szene, die ICH nicht erlebt hat, kann nicht erzählt werden. Es sei denn, ICH hat sie geträumt oder davon gehört. Dieses Verfahren schränkt ein und teilt vom horizontlosen Tummelplatz einen Laufstall ab, in dem sich gerade junge Autoren, die Verfasserin inklusive, wohler fühlen als auf freier Wildbahn.
Junge Autoren sind also Anfänger, und auktoriales Erzählen ist etwas für Fortgeschrittene? Vielleicht ein bisschen. In diesem Fall müsste jedoch ein Haufen schlechter auktorialer Erzählungen existieren. Oder waren wir je vernünftig genug, um nichts zu beginnen, das wir nicht beherrschen?
7. ICH weiß, dass ICH nichts weiß.
Es steht zu befürchten, dass der subkutane Widerstand dagegen, vom Autor zum Erzähler zu werden, eine weitere Ursache hat. Das ICH ist nicht bloß einfacher zu bewältigen. Es ist nicht nur die bessere Entsprechung einer autoritätsfreien Umwelt und nicht nur alter ego einer bauchbespiegelnden, unpolitischen, popigen Individualistengeneration.
Wir haben Höhenangst. Uns ist der Wille zur Draufsicht verloren gegangen, in der
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