Alles auf dem Rasen
stirbt, RTL läuft, Vater oder Mutter haben eine Meinung dazu. Das ICH hat häufig keinen Beruf, fast möchte man vermuten, dass es irgendetwas Geisteswissenschaftliches studiert und manchmal Kurzgeschichten schreibt. Beim Lesen entsteht ein unbehagliches Gefühl. Es liegt nicht an mangelnder Abwechslung bei Wiederbegegnungen mit der immer gleichen Erzählhaltung, sondern am schleichenden Verdacht, bei ICH handele es sich nicht nur um eine literarisch notwendige Konstruktion. Sondern um einen verdammt engen Verwandten des Autors.
Wir kreisen um die eigene Person. Erzählen unsere Lebensgeschichten schon in jungen Jahren einem Psychiater oder einer Textdatei mit Namen »roman.doc«. Wir haben noch nicht viel von der Welt gesehen und trotzdem beschlossen, Schriftsteller zu werden. Wir leben zwischen eigenem Bauchnabel und Tellerrand und schreiben darüber. Unsere Texte sind ICH-bezogen wie wir selbst.
Auf den ersten Blick scheint an dieser Erklärung etwas Wahres zu sein. Sie passt zu dem oft geäußerten, verworfenen und wieder aufgewärmten Vorwurf, die Literatur, insbesondere die deutsche und erst recht die junge Literatur, habe nichts zu erzählen. Sie sei Pop und U statt Schwerkost und E, und ihre Autoren beherrschten vielleicht den medienwirksamen Auftritt, nicht aber das literarische Handwerk.
Schon möglich. Aber nichts erzählen könnten wir doch eigentlich auch in der dritten Person?
Wer dem ICH zu entkommen versucht, landet, wie meine kleine Statistik zeigt, im Regelfall bei der personalen Erzählhaltung. ICH wird umgetauft in Sylvie, Ulli, Nette, manchmal auch nur in »er« oder »sie«. ER, der über die Straße geht, lacht, guckt, fühlt und denkt, trägt beim Erleben und Wahrnehmen die Kamera der Erzählperspektive mit sich herum. Der Leser erfährt nichts, was ER nicht weiß, sieht nichts, was ER nicht sieht, und kann nur im Schlepptau der Hauptfigur das literarische Geschehen durchleben. Der Blick auf die vom Text geschaffene Welt bleibt eingeschränkt durch das Schlüsselloch einer subjektiven Wahrnehmung.
Und das in einer Zeit, da Bewusstseinsströme, innere Monologe, autoanalytische Suada und überhaupt Spaziergänge durch den am besten kranken Kopf einer einzelnen Figur keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken dürften. Ja: Die Welt ist nicht mehr als unser Blick auf sie. Klar: Eine objektiv zugängliche Wirklichkeit gibt es nicht. Spätestens seit Matrix müsste uns diese Erkenntnis aus Platons Höhlengleichnis zum Hals heraushängen. Bestimmt mochte auch Platon keine Bücher, die mit dem Satz »Und dann erwachte ich« enden. Auch wenn man demütig allen objektiven Wirklichkeiten und Wahrheiten abgeschworen hat, zwingt das nicht dazu, ein Leben lang nur noch aus der Subjektiven zu erzählen.
Der Mann ohne Eigenschaften, von dem hier erzählt wird, hieß Ulrich, und Ulrich – es ist nicht angenehm, jemand immerzu beim Taufnamen zu nennen, den man erst so flüchtig kennt! […] – hatte die erste Probe seiner Sinnesart schon an der Grenze des Knaben- und Jünglingsalters in einem Schulaufsatz abgelegt, der einen patriotischen Gedanken zur Aufgabe hatte. Patriotismus war in Österreich ein ganz besonderer Gegenstand.
Jeder einzelne Satz aus Robert Musils unvollendetem Roman kann als Paradebeispiel herhalten für den Tonfall einer Stimme, die weder einem ICH noch einem personalen ER zugeordnet ist. An- und Einsichten des Romans sind nicht solche der Figuren. Diese werden am langen Arm der epischen Distanz zu der ihnen eigenen Subjektivität geführt: Über die Zeit bis dahin vermochte Ulrich heute den Kopf zu schütteln. Der Text bleibt Text, Ulrich bleibt Ulrich und damit eine literarische Konstruktion. Das ist strenge und vielleicht schwer verdauliche Trennkost im Vergleich zum Kochrezept der neuen ICH-Erzählung, das Autor, Erzähler, Figur und Leser auf kleiner Flamme zu einer geschmeidigen Masse verrührt.
»Aber wenn ich versuche, auch nur den Anfang eines Textes auktorial zu konzipieren«, sagt mein geplagter Freund F., »klingt es altbacken, oberlehrerhaft und vorgestrig!«
3. ICH drechselt nicht. ICH redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Kann eine Erzählperspektive direkten Einfluss auf die sprachliche Qualität des Textes haben? Wie kann eine Erzählhaltung veraltet oder zeitgemäß frisch oder überhaupt irgendwie »klingen«?
Im Vergleich zum ICH steht der auktoriale Erzähler in Sachen Distanz zum literarischen Geschehen und den darin herumlaufenden Figuren am
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