Alles auf dem Rasen
Uniformen mehr, weder stoffliche noch geistige. Dass diese Abneigung in einem Land, dessen Bevölkerung traditionell zu Übertreibungen neigt, schnell zum fanatischen Antikollektivismus mutiert, vermag nicht einmal sonderlich zu überraschen. Eine Folge daraus ist leider die Unfähigkeit, legitime Interessen gemeinsam durchzusetzen und auf diese Weise am demokratischen Leben teilzunehmen. In der Demokratie zählt die Mehrheit, und die Mehrheit ist nun mal in gewissem Sinn eine Gruppe.
Ein Schriftsteller muss aber, um politisch zu sein, nicht nur keiner Partei angehören; er muss nicht einmal politische Literatur schreiben. Er kann Schriftsteller und politischer Denker in Personalunion sein, ohne dass das eine Mittel zum Zweck des anderen würde. Was wäre von ihm überhaupt zu erwarten? Er müsste zu bestimmten politischen Themen eine Meinung entwickeln und diese von Zeit zu Zeit öffentlich kundtun. Mehr als jeder andere hat er die Chance, politisch zu agieren und trotzdem seine Herdenphobie zu pflegen. Lässt man nun die lebende Schriftstellergeneration vor dem geistigen Auge vorbeiziehen, wird man sich in den meisten Fällen ergebnislos fragen: War X für oder gegen den Irakkrieg? Was meint Y zum Reformstau? Wie steht es nach Z’s Meinung um die Fortentwicklung der Demokratie?
Befragt man X, Y und Z in der Kneipe bei Bier und Wein, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit zu allen diesen Fragen etwas sagen können. Fragt man sie weiter: Warum schreibt ihr das nicht auf, wie es eurer Profession entspricht?, werden sie Unklares murmeln. Das bringt doch nichts. Das ist nicht mein Job. Ich trenne Politik und Literatur. Ich will mich vor keinen Karren spannen lassen … da capo, da capo .
Man hat, unendlich paradox, die Politik zur Privatsache erklärt.
Dafür gibt es einen Grund. Die öffentliche Meinung hat die Schriftsteller aus dem Dienstverhältnis entlassen, und Letztere haben nicht einmal versucht, Kündigungsschutzklage zu erheben. Wenn heutzutage ein Bedarf nach Meinungen entsteht, fragt man einen Experten. In schlimmen Bedarfsfällen gründet man eine Kommission. Es gibt Balkanexperten, Irakexperten, Finanz-, Ethik- und Jugendexperten, Experten für Demokratie oder Menschenrechtsfragen, und es gibt fast ebenso viele Kommissionen. Die Schriftsteller haben sofort eingesehen, dass sie weder Experten noch eine Kommission sind. Sie sind Spezialisten für alles und nichts, für sich selbst, für Gott und die Welt.
Die moderne Menschheit unterliegt einem fatalen Irrtum, wenn sie vergisst, dass Politik etwas ist, das, im Guten wie im Bösen, von Menschen für Menschen gemacht wird, und nicht etwa eine Wissenschaft, die nur in den Laboratorien der globalen Wirtschaft und des internationalen Verbrechens erforscht und verstanden wird. Um politisch zu sein, braucht man keine Partei, und vor allem braucht man kein staatlich anerkanntes Expertentum. Vielmehr braucht man zweierlei: gesunden Menschenverstand und ein Herz im Leib. Wem diese Betrachtungsweise naiv erscheint, der hat sich, vermutlich unbemerkt, schon recht weit vom ursprünglichen Ideengehalt unserer Staatsform entfernt. In einer Demokratie geht die Staatsgewalt vom Volke aus, und dies darf nicht nur ein leeres Lippenbekenntnis sein. Das Volk ist kein Gremium. Wenn tatsächlich ein großer Teil der Bevölkerung dem Gefühl erläge, die Politik sei zu kompliziert, zu abgehoben, vielleicht auch zu langweilig und vor allem zu undurchlässig, um den Einzelnen noch etwas anzugehen, befände sich das demokratische System in einer Krise.
Es ist durchaus nicht so, dass uns Schriftstellern Herz und Verstand abhanden gekommen wären. Wir trauen uns nur nicht mehr, sie öffentlich zu gebrauchen. Wir fürchten die Frage: Woher wisst ihr das?
Nach meiner politischen Einstellung befragt, würde ich antworten, dass ich meinen Kinderglauben an die Gerechtigkeit nicht verloren habe. Ich würde anführen, dass ich meine juristischen Kenntnisse darauf verwende, ehrenamtlich gegen demokratischen Kolonialismus auf dem Balkan und gegen die Telekom zu kämpfen. Ich gehöre keiner Partei an, und niemand, am allerwenigsten ich selbst, wäre in der Lage zu sagen, ob ich »links« bin oder »rechts«.
Mehr als rechts und links, rot oder schwarz stützt mich der feste Glaube, dass der Literatur per se eine soziale und im weitesten Sinne politische Rolle zukommt. Es ist ein natürliches Bedürfnis der Menschen zu erfahren, was andere Menschen – repräsentiert durch den
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