Alles auf dem Rasen
Vogelperspektive wird uns schwindlig.
Der Erzähler berichtet seinen Lesern von der Welt. Zunächst von der selbstgeschaffenen und über diese auch ein kleines Stück von der wirklichen Welt. Er gibt vor, etwas davon zu verstehen, und möglicherweise hat er wirklich etwas verstanden. Der Patriotismus ist in Österreich ein ganz besonderer Gegenstand – wer würde es heute noch wagen, einen solchen Satz zu schreiben? Ein Historiker. Ein Essayist vielleicht oder der Politikredakteur einer überregionalen Tageszeitung. Sätze dieser Art sind für Sachverständige, für Ethikexperten, Gentechnologie-, Wirtschafts-, Umwelt- und Balkanspezialisten. Ein Schriftsteller würde schreiben: »Der Patriotismus«, sagte der distinguierte Herr mit dem zurückweichenden Haaransatz und den auffällig dunklen Augenbrauen, »ist in Österreich ein ganz besonderer Gegenstand.« Ich wagte keine Widerworte. Schon seinem Tweedanzug war anzusehen, dass der Mann wusste, wovon er sprach.
Die Teilnehmer an öffentlichen Diskursen hießen einst Intellektuelle oder gar Philosophen, und wenigstens zur ersten Kategorie durfte ein Schriftsteller sich zählen. Heute heißen sie Spezialisten, Sachverständige oder eben Experten. Sie führen das allgemeine Gespräch über eine angeblich immer komplexere Welt.
Die Welt war, ehrlich gesagt, schon immer ziemlich komplex. Nur war unser Informationsstand noch nie so hoch, der Zugang zu Wissensquellen niemals leichter und die Möglichkeit zur Teilnahme an Kommunikationsprozessen weniger verbreitet. Wachsendes Wissen, lautet eine alte Erkenntnis, geht mit dem wachsenden Gefühl des eigenen Nichtwissens einher. Diese Unsicherheit gälte es auszuhalten, um meinungs- und sprachfähig zu bleiben. Auch wenn es einfach ist, jemanden mundtot zu machen, indem man ihn bei fehlendem Expertentum ertappt.
Wir haben das Feld geräumt und uns auf die letzte Bastion individuellen Spezialwissens, nämlich das streng subjektive Erleben zurückgezogen. In die literarische Froschperspektive. Die Stimme aus dem Off, sie schweigt. Die Gedanken sind frei, vor allem die eigenen, und wenn es brenzlig wird, können wir die Mär vom literarischen Erzählen wiederbeleben: Das habe doch nicht ich gesagt, sondern ICH, und ICH ist, wie jeder weiß, mit dem Autor nicht identisch.
8. ICH könnte mal Pause haben. ICH könnte den Mund halten, während andere reden.
Vielleicht sollten wir wieder bei Momo oder den drei Fragezeichen beginnen. Uns mit dem Rücken an Kachelöfen lehnen, Überseefahrten unternehmen, dreimal täglich den Satz wiederholen: Musil hat es auch überlebt. Unsere Persönlichkeiten spalten, bis wir genügend Leute haben für ein breites literarisches Figurenpersonal. Stadtrundflüge buchen zur Überwindung von Höhenangst, autoritär-hierarchische Strukturen verinnerlichen bei der Bundeswehr. Jeden Morgen vor dem Badezimmerspiegel sagen: Patriotismus ist in Österreich ein besonderer Gegenstand.
»Es wäre gut«, sagt mein Freund F., »mal eine moderne, deutsche, auktoriale Erzählung zu schreiben.«
Oder wenigstens einen auktorialen Essay.
ICH meint ja nur.
2002
REISEN
1 einen kriegszug unternehmen, auf dem
kriegszuge sein, sowohl absolut als mit näheren bestimmungen
2 aufbrechen, weggehen von einem ort, sich fortmachen; auch vom unfreiwilligen fortgehen, sich wegscheren. im sinne von aufbrechen
3 eine reise (im gewöhnlichen sinne) machen, sich auf reisen begeben, auf reisen sein, zunächst vom menschen, ohne nähere bestimmung
Fehlende Worte
A m vorletzten Tag des Jahres 1998 beschlossen S. und ich plötzlich, Silvester in Krakau zu verbringen. Über Krakau wussten wir, dass von dort die Würstchen gleichen Namens stammen.
In Polen war ich nie zuvor gewesen. Das Land stellte ich mir als riesengroßes, stillgelegtes Industriegelände vor. Von Krakau trennten uns 600 Kilometer, wir rechneten mit sieben Stunden. Bis zum Abend hatte ich einen Mietwagen organisiert, in der Nacht fuhren wir los.
Nach sechzehn Stunden Autofahrt näherten wir uns einer Stadt. Genaues war nicht zu erkennen, das Land lag im Nebel, die Sichtweite betrug vier Meter, die Temperatur minus fünfzehn Grad. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte drei am Nachmittag, aber vielleicht hatten wir unterwegs unbemerkt ein paar Zeitzonen durchquert. Vielleicht auch gleich ein paar Jahrhunderte. Pferdekutschen, die Insassen in Decken gehüllt, tauchten aus der Watte auf, Teile einer mittelalterlichen Burganlage, gotische Kirchtürme, ein
Weitere Kostenlose Bücher