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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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regungsloser Fluss, weiß von Schwänen.
    Scheiße, sagte S., wir sind in einem tschechischen Märchenfilm gelandet.
    Straßen und Bürgersteige waren voller Menschen, die Hotels ausgebucht, an den Rezeptionen lachte man uns aus.
    Durch Zufall fanden wir Unterschlupf zwischen den Betonwänden eines noch nicht fertig gestellten Hotels. Es roch betäubend nach Farbe und Zement. Mühsam hielten wir uns wach, trieben in engen Gassen durch gelb angestrahlten Dunst, aneinander geklammert, um uns im Gewühl nicht zu verlieren, berührten gelegentlich die alten Gemäuer mit Händen, darauf gefasst, ins Leere zu greifen. Die fremde Sprache aus unzähligen Mündern vermischte sich mit Musik, die, wohin wir auch liefen, immer gedämpft hinter geschlossenen Fenstern, einer Mauer oder der nächsten Straßenecke erklang. Um Mitternacht konnten wir mit den blau gefrorenen Fingern die Sektflasche nicht öffnen.
    Als wir erwachten, war es immer noch neblig und dunkel, geduckt verließen wir das Hotel, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Die Armbanduhren zeigten sechs Uhr, aber morgens oder abends, und welcher Tag? Jedenfalls hatte das neue Jahr begonnen, wir konnten nach Hause. Acht Stunden später war es immer noch nicht hell, der nagelneue Mietwagen brach kurz vor der deutschen Grenze zusammen.
    Krakau, das war etwas ohne Ort und Zeit, schön, wie nur Dinge es sind, die man nicht klar zu sehen vermag, angefüllt von einer Sprache, die Musik wurde, weil man sie nicht verstand. Alles war Rausch und nichts funktionierte. Nicht einmal der nagelneue Opel von Sixt. Der ADAC brachte uns nach Leipzig. Während ich zwischen S. und dem Gelben Engel im Fahrerhäuschen des Abschleppwagens königlich hoch über der Straße thronte, stellte ich mir vor, wie es wäre, in einer Stadt zu leben, deren Häuser, kaum dreht man ihnen den Rücken, die Plätze tauschen. Wo es niemals hell wird. Wo der Nebel unentwegt Gesichter verschlingt und entlässt, die Antworten zu verbergen scheinen, zu denen man nicht einmal die Fragen kennt. Krakau ließ mich nicht mehr in Ruhe. Ich wollte nichts entdecken, weder Detektiv noch Spitzel oder Pfadfinder sein. Ich wollte kein Geheimnis ergründen, sondern die Schönheiten des Schleiers genießen. Ich spürte eine unwiderstehliche Sehnsucht, selbst Teil dieses Schleiers zu werden.
    Ein gutes Jahr später bin ich wieder da, ausgerüstet mit Kleidung und Büchern für vier Monate sowie der Möglichkeit, ein Auslandssemester in Polen zu absolvieren. Ich habe Unterkunft gefunden bei einer Familie im Randbezirk Borek Fałęcki, dessen Namen ich mir nicht länger als drei Sekunden merken kann. Die Straßen bestehen aus hart gefrorenen Radspuren und den Abdrücken von Füßen. Hier und da kleben weggeworfene Weihnachtsbäume am Boden fest. Die Temperatur liegt bei minus zwanzig Grad, hinter den Zäunen bellen unsichtbare Hunde. Vor dem Betreten des Viertels muss minutenlang an einer Bahnschranke gewartet werden, hinter der niemals ein Zug vorbeifährt.
    Im Treppenhaus begegne ich dem Sohn meiner Vermieter. Umständlich geben wir uns über das Geländer die Hände, legen die abgestorbenen Finger in Lederhandschuhen ineinander wie Gegenstände, die nicht zu unseren Körpern gehören. Beim Lächeln reißen uns die Lippen. Am Abend steht er mit einer braunen Flasche vor meiner Tür. Er heißt R., kann kaum Englisch, ich kein Polnisch. Wir schweigen lange und benutzen gelegentlich die Namen von Musikbands oder Autoren, die in allen Sprachen verständlich sind. In den Nächten höre ich seine CDS und hacke Szenen für meinen Roman in die Schreibmaschine, deren Lärm das Haus erzittern lässt. Währenddessen steht R. in meinem Badezimmer und entwickelt in der Duschwanne schmerzhaft schöne Schwarz-Weiß-Aufnahmen von traurigen Frauen. Wenn R. nicht kommt, warte ich manchmal am Fenster, sehe auf die leere, Eisrauch atmende Straße hinaus, und die Gardine liegt wie ein Brautschleier über meinem Kopf. Ich rufe S. in Leipzig an und sage, dass ich mich verliebt habe. Unter Tränen klagt S. sich selbst und die Götter an, dass sie alle zusammen mir erlaubt haben, diese Stadt jemals zu betreten. Eigentlich meinte ich Krakau, aber ich korrigiere ihn nicht.
    Niemand will mir die Stadt zeigen. »Hier gibt’s nichts zu sehen!« – Ein seltsamer Witz. Wenn die Nebel sich heben, sehe ich eine Stadt mit Altersringen gleich einem tausendjährigen Baum, Geschichte, die sich vom mittelalterlichen Zentrum bis zur kommunistischen

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