Alles auf dem Rasen
mir ins Gesicht.
R. und mir fehlen die Worte. Eines Nachts ist er verschwunden. Ich habe keine Telefonnummern, die ich anrufen könnte. Zwei Wochen lang sitze ich am Boden der leeren Wohnung in Steckdosennähe. Mit dem Roman geht es schnell voran, ihm zuliebe kann ich die Zeit nicht zurückdrehen. Hier wird es nicht mehr Herbst werden, erst recht nicht Winter. Es braucht nur eine Stunde, um die letzten Monate in meine Reisetaschen zu packen. Als ich die Stadt verlasse, sind die Baumkronen schwarz von Raben, sie kommen immer wieder zurück.
Deutschland ist nass und kalt. In meiner Küche leben Mäuse, im Wohnzimmer die Ratten. Das Poster von Krakau hänge ich nicht auf, zusammengerollt bleibt es in einer Ecke. Ich habe Glück gehabt. Jetzt, denke ich, habe ich es nicht mehr.
2002
Theo, fahr doch
A nhand der Beschreibung würde Theo seine Stadt nicht erkennen. Alter: kaum zweihundert Jahre. Größe: achthunderttausend Seelen. Besondere Kennzeichen: keine. Neben ihrem bürgerlichem Namen, geschrieben Łódź, gesprochen »Wuuhdsch«, auf Deutsch: das Boot, trägt sie mehr Decknamen als New York City. Wie eine dunkle Zauberin bringt sie jeden Besucher dazu, ob Verehrer oder Feind, ihr einen weiteren zu erfinden. Manchester des Ostens, Wald der dreihundert Schlote, Regenstadt oder Russlands Webstuhl. Für den Nobelpreisträger Reymont war sie das gelobte Land, für die Nazis Litzmannstadt. Holly-Wuuhdsch!, lächeln jene, die Filme von Polanski und Kieślowski lieben. Stadt ohne Grenzen, Stadt des Bösen, Stadt ohne Geschichte. Theo ist gerade erst in den Zug gestiegen und glaubt schon zu wissen, wie er sie nennen würde: die Oftgetaufte. Was sich hinter den ungezählten Namen verbirgt, weiß in Deutschland jedenfalls kaum jemand. Als hätte sich die Zauberin aus den Gedächtnissen gelöscht – niemand kann sich erinnern.
Außer daran, dass Theo nach Lodsch fährt. Seit seiner Kindheit beantwortet er die lustige Frage: Heute schon in Lodsch gewesen? – Wen interessiert schon, dass das Lied eigentlich »Itzek, komm mit nach Łódź« heißt und dumme Bauern besingt, die Dorf und Torf verlassen, um in einer explodierenden Industriestadt ihr Glück zu suchen. Trotz aller Gegendarstellungen findet Theo seinen Namen an unerfreulichen Stellen, auf dem Cover von Schlagersammlungen und in deutschen Grammatikbüchern:
Theo steht mit einem Fernglas am Fenster. Die Temperatur ist um drei Grad gesunken.
Er fühlt sein Herz schlagen. Er hört sich selber schreien.
Theo fährt nicht nach Lodsch. Er fährt nicht dorthin. Fahr doch, Theo!
Fahr doch, fahr doch. Theo schaut durch die Scheiben des Warschau-Express über eine flache Landschaft, in der das letzte Hochwasser mächtige Holzbrocken zurückgelassen hat. Wie dickhäutige Tiere hocken sie zwischen Eiskrusten auf den Feldern und wissen nicht weiter. Die grünstichige Zugbeleuchtung schaltet sich ein und aus, als könnte der Express nicht entscheiden, ob es dunkel ist oder hell. Es ist beides zugleich: ein richtiger Polarwintertag.
Steh auf du altes Murmeltier / Bevor ich die Geduld verlier / Theo, wir fahr’n nach Lodsch. – Die Reise war die Idee seiner genervten Freundin: Dann fahr halt hin. Mitkommen wollte sie nicht. Theo hört sein Herz schlagen. Die Temperatur ist um drei Grad gesunken.
»Wer ist dieser Theo?«, fragt mein Freund F., der mir dauernd über die Schulter schaut.
»Eine fiktive Figur«, sage ich ungeduldig. »Damit müsstest gerade du dich auskennen.«
»Und warum fährt er nach Lodsch und nicht ich?«
Ich bin schlecht gelaunt, weil es nicht einfach ist, auf drei Textebenen gleichzeitig zu operieren. Um F. loszuwerden, schicke ich ihn auf Recherche ins Internet. Historische Daten sammeln, Polnischvokabeln übersetzen.
Gottverlassnes Dorf / Nur Heu und Torf. – Der Express verlangsamt das Tempo, spuckt Theo auf einen Bahnsteig und ist fast im gleichen Augenblick wieder verschwunden. Vier Schienenstränge unter freiem Himmel. Keine Menschenseele. Kutno heißt das gottverlassene Nest.
F. ist viel zu schnell wieder zurück: In den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, als Łódź seine knapp achthundert Einwohner noch in Holzhütten aufbewahrt, fällen die russischen Behörden im geteilten Wiener-Kongress-Polen eine Entscheidung. Linien werden mit Stöcken in den Sand gezogen, große Landstücke an in- und ausländische Einwanderer verschenkt. Unter einer Bedingung: Jeder baut eine Fabrik. Fünfzig Jahre später leben
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