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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Plattenbauperipherie in konzentrischen Kreisen ausbreitet. Jeder noch so alte Stein liegt an seinem Platz. Krakau hat die Kriege der letzten Jahrhunderte wie in einer Schmuckschatulle überdauert. Selbst im Judenviertel Kazimierz, das ausgeräumt wurde bis auf die letzte Maus, stehen die Synagogen, der jüdische Markt, die Klezmerhäuser unberührt. Obwohl Kazimierz der schönste aller Stadtteile ist, leben hier nur Künstler und andere Übergeschnappte. Auschwitz liegt nur vierzig Autominuten entfernt.
    Niemand redet mit mir, weil ich Deutsche bin und zu gut Englisch kann. Deshalb habe ich Zeit. Niemand erzählt mir Legenden, und ich erfahre sie doch, die Stadt ist ganz aus ihnen errichtet. Geschichten über die Türme der Marienkirche, die zwei Brüder im Wettstreit erbauten, und über Tauben, die eigentlich verzauberte Ritter sind. Geschichten von den Raben, die Krakau den Namen gaben und in heidnischen Zeiten durch Priester betreut wurden, weil ihre Flugbahn alle Geschicke prophezeit. Das Lied des Bronzetrompeters zur vollen Stunde bricht mittendrin ab, ganz hinten auf dem Hauptaltar von Veit Stoß steht ein gelber Schnabelschuh. Über dem Eingang der Tuchhallen baumelt ein Dolch, und eines der geschnitzten Gesichter in der Kassettendecke des Gesandtensaals hat einen geknebelten Mund. Ich lerne, den Kopf in den Nacken zu legen, ich lerne, die Stadt zu lesen. Ich vergesse den Klang meiner eigenen Stimme.
    R. und mir fehlen die Worte. Er hasst die Stadt und geht nicht oft vor die Tür. Wenn ich nicht ziellos herumlaufe oder auf der Schreibmaschine lärme, sitze ich in seinem Keller, verwirbele Teeblätter im Glas und betrachte Schwarz-Weiß-Photographien. Ab und zu lerne ich ein polnisches Wort, für »Lichtbrechung« zum Beispiel, für »Hintergrund«, »Schatten« und »Verlust der Kontur«. Es ist kalt im Keller, draußen lässt der Winter die Gelenke knacken. R. friert nie. Ich befürchte, dass er verschwinden wird, weniger schmelzend als verblassend bei steigender Temperatur.
    Das Unglaubliche geschieht, es wird wärmer. R. ist noch da. Wir leben in Sünde. Die Eltern, unsere Vermieter, werfen uns raus, ihn aus dem Keller, mich aus dem ersten Stock. R. sagt, wir seien wie Julian: Er meint Słowacki, schlägt den Hemdkragen hoch, nimmt eine Rose aus der Vase auf dem verschnörkelten Kaffeehaustisch und klemmt sie zwischen die Zähne. Wir lachen uns an. Unter dem Tisch stehen meine Reisetaschen. Jetzt sind wir wirklich übergeschnappt.
    Wir ziehen zusammen in die Lenartowicza, eine Querstraße der Juliusz-Słowacki-Allee. Die alte Hauseigentümerin mag Deutsche, sie zeigt mir die Schalter im Treppenhaus, auf denen »Licht« steht: Die faschistischen Besatzer haben alles schön renoviert. Die Wohnung ist leer bis auf ein paar Bücher und eine Matratze, wir haben kein Geld für die Miete und kaum zwanzig Sätze, die wir wechseln können. Krakau ist zufrieden mit uns und beginnt, nach Blumen zu duften.
    Ich leihe ein Laptop, mit dem Roman geht es schneller voran. Jetzt kann ich auch »Sprachmelodie«, »Mondnacht« und »Hauptsache, wir sind zusammen« auf Polnisch sagen. Ich kenne jedes Gebäude in der Stadt und keine Menschenseele, ich sitze stundenlang auf der Fensterbank. Auf dem Dach gegenüber wispern die rostigen Antennen. Manchmal ruft S. aus Deutschland an und fragt, ob ich übergeschnappt sei.
    Im Mai wollte ich zurück in Leipzig sein, es ist August und unerträglich heiß. Kazimierz feiert jüdische Wochen, in den Nächten tragen wir Wohnzimmerstühle aus den Kneipengewölben auf die staubige Straße und trinken roten Wein. Tagsüber machen wir Photos auf verlassenen Sportplätzen und vor zerfetzten Plakatwänden. Wenn das nicht hilft gegen die fiebrige Schönheit der Stadt, fahren wir raus zu den stalinistischen Paradealleen und endlosen Industrielandschaften Nowa Hutas. Immer öfter liege ich im Schatten unter den Burgmauern des Wawel und schaue über die blendende Weichsel. Ich lerne die polnischen Ausdrücke für »wir werden sehen«, »klar muss ich irgendwann zurück« und »es ist, wie es ist«.
    So sehr hatte ich mir den Herbst in Krakau gewünscht, aber die Blätter sitzen alle fest an ihren Zweigen und Ästen. Ich stehe auf Planty, dem ringförmigen Park entlang der Stadtmauern, und zucke zusammen bei jedem Donnerschlag. Mit Schreckschusskanonen werden die Schwärme von Raben vertrieben. Man kann ihnen opfern oder sie mit Kanonen beschießen. Ich weine. Die Straßen sind voll, niemand schaut

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