Alles auf dem Rasen
Pflanzen, Menschen und Tieren beladen, als wären sie gerade aus einem Schläfchen erwacht und trügen auf den müden Gesichtern die Abdrücke dessen, was sie unter sich begruben. Theo wendet sich nach Norden, ein ungeduldiger Wind ist sein Begleiter. Zwei alte Männer unterhalten sich übers Theater, ihre Stimmen kommen von den Fassaden zurück: Ein Drama! Was für ein Drama! – Die Straße ist eine Übung im perspektivischen Zeichnen. Unzählige Boutiquen stellen goldene Mäntel für die himmlischen Heerscharen aus. 2003! Hoch über dem achteckigen Platz der Freiheit zählt eine Digitalanzeige die Jahre. Derselbe kleine Hund rennt schon zum dritten Mal vorbei und dreht an jeder Ecke in Panik den Kopf. Eben noch pfiff und rief ein Herrchen, aber Theo, der sich auf einmal danach sehnt, dem Tier nach Hause zu helfen, kann sich schon nicht mehr erinnern, wo das war. Und: wann?
Das hält keiner aus / Ich muss hier raus. – Theo beginnt zu laufen. Er rennt durchs alte Ghetto, wo die Parks unter Wasser stehen, für Monate in gefrorene Schlammsuhlen verwandelt. Wo der Mond weiß und rund wie ein Bierdeckel über den Dächern klemmt, wo Kohleberge in schwarzen Hinterhöfen unter freiem Himmel auf Käufer warten. Wo Schritte auf dem Pflaster schlurfen und Theo um alle Ecken, durch die leeren Arkaden des Markts und über den Hof einer Kirche verfolgen. Ein Kind drischt mit einem Stock auf eine eiserne Absperrungskette ein.
Weil es irgendwann auch in Łódź Tag und Mittag wird, besäuft sich der Himmel mit blauer Farbe, was die Stadt nicht interessiert. Theo rennt durch Pfaffenmühle, wo die Reihen von Arbeiterhäusern, Fabriken, Schule und Spital aus dem immer gleichen Ziegel gemacht sind wie Körperteile eines einzigen, roten Wesens. Eisfischer hocken neben gehackten Löchern auf dem zugefrorenen See, ein paar Schlittschuhläufer bewegen sich langsam auf schlecht geschliffenen Kufen. Theo durchquert Paläste und Villen, in denen es kalt ist wie draußen, ehemals bewohnte Ausstellungsräume für Möbel aller Epochen.
Ruhe findet er auf dem Mittelstreifen einer achtspurigen Hauptverkehrsstraße. Studenten sitzen in aufgeplusterten Daunenjacken wie frierende Vögel auf den Stufen der berühmten Filmakademie und lächeln ihm zu. Theo kauft sich ein Brötchen, bricht es auf und schnäuzt sich hinein. Theo betrinkt sich mit bulgarischem Rotwein auf seinem Hotelzimmer. Schon am frühen Nachmittag fällt die Nacht über Łódź und Theo mit ihr. Dann kann ich leben / Dann bin ich frei / Und die Liebe ist mit dabei.
»Und dann?«
Wir haben alle Stadtpläne und Reiseführer vom Tisch gefegt. F. hockt auf der Kante.
»Dann«, sage ich, »in der zweiten Nacht, als die Schnellstraßen wieder brachliegen wie eingefrorene Flüsse, findet Theo sich in einem Kellergewölbe am Rand einer Bühne wieder. Darauf steht ein Mädchen, kaum größer als ein Hydrant, und bringt mit großer Stimme die Nacht zum Schmelzen. Ein paar Häuser weiter trommeln vierzig Hände im Inneren einer alten Fabrik, zwei Tänzer schlagen mit Flammenflügeln, drehen sich wie brennende Derwische und löschen sich selbst und ihre Zuschauer in einem Meer aus Licht und Hitze aus. Theo feiert, ganz allein, ein Fest, das ihn die Welt vergessen lässt. Er ist verliebt und weiß nicht, in wen. Er will sein Haar wachsen lassen und zu Zöpfen binden, er will eine Wohnung im alten Ghetto nehmen und sie liebevoll einrichten, bis ihre Gemütlichkeit in ewiger Schlacht mit der Außenwelt steht. Er will einen kleinen Hund kaufen und ihn einmal pro Woche verzweifelt in allen Hinterhöfen suchen. Er wird lernen, bröckelnden Beton und rostiges Eisen zu lieben, was gar nicht schwer ist. Er wird im Januar die Weihnachtsdekoration nicht von den Fenstern nehmen, weil ein Jahr doch so schnell verrinnt. Alle Sorgen werden von Theo abfallen. Er wird essen, was auf den Tisch kommt, und kein Handy oder Diktiergerät brauchen, um mit sich selber zu sprechen. Die Geschichte hat ihn im Nacken gepackt wie ein flüchtiges Junges und zu den anderen getragen, ins warme, leuchtende, brennende Nest.«
»Und seine genervte Freundin?«, fragt F. Ich runzele die Stirn. »Ich meine jene, die unbedingt wollte, dass Theo nach Łódź fährt?«
»Ach, die. Sie hat nie wieder etwas von ihm gehört.« Nachdenklich spiele ich mit dem Stift. »Ich glaube, sie kann sich nur verschwommen erinnern.«
2003
Niedliche Dinge
»Was sind eigentlich Sorben?«, frage ich meinen Freund F., der als
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