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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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dreihunderttausend Menschen in der Stadt, zu je einem Drittel Polen, Juden und Deutsche. Vor meinem geistigen Auge entfalten sich Fabriken und Wohnhäuser wie Umzugskartons. Seitdem ist Łódź die zweitgrößte Stadt Polens. Aber, lacht F., deshalb noch lang nicht ans überregionale Verkehrsnetz angeschlossen. Er klatscht und stampft und übt sich als Spontandichter: »Theo, pack dein Glück beim Schopf / Und hau alles auf den Kopf / So lang hast du auf Lodsch gespart: / Für eine Stunde Taxifahrt!« Ich winke ab und scheuche ihn zurück an die Arbeit.
    »Waren Sie schon mal in Freitag?«, fragt der Taxifahrer dumpf. »Da liegt das Zentrum von Polen.«
    Schwer lastet Dunkelheit auf leeren Feldern. Auf Theo lastet das Gefühl, in den Wagen eines Wahnsinnigen gestiegen zu sein. Er sucht schon nach dem Türgriff, als ein Ortsschild vorbeiflitzt: Piątek – Freitag.
    »Zentrum nur in geographischer Hinsicht«, sagt der Fahrer und beginnt, vom Untergang einer Metropole zu erzählen. Nach der Wende ist der Handel mit Russland zusammengebrochen. Wenigstens gibt es ein neues Kino, »echt einundzwanzigstes Jahrhundert«, und Theos Hotel: »Nagelneu.«
    Der Fahrer will das Zimmer besichtigen und befühlt die türkisfarbenen Duschvorhänge an den Fenstern. Draußen: »Łódź-Manhattan!«
    Ich brauch Musik und Tanz / Und etwas Eleganz. – Neue und alte Plattenbauten und eine zehnspurige Hauptverkehrsstraße. Am Hochhaus gegenüber hängt ein tennisplatzgroßes Werbeplakat, das eine grüne Wiese zeigt.
    »Schöne Aussicht«, sagt der Fahrer und drückt Theo die Hand.
    »Das Gute«, F. steckt den Kopf durch den Türspalt, »an Städten mit nur zweihundert Jahren Geschichte ist, dass sie keine historischen Marktplätze haben, keine gotischen Kathedralen und mittelalterlichen Gassen. Davon gibt’s in Polen sowieso schon mehr als genug.«
    Łódź hat kein Herz, dafür aber eine Wirbelsäule. Schnurgerade fräst sich die Prachtallee Piotrkowska über fünf Kilometer durch die Stadt, auf dem Reißbrett gezogen, als Zeitstrahl einer selbst erfundenen Geschichte. Die Gebäude bewahren eine nicht vorhandene Vergangenheit. Außen Neogotik, Neoromantik, Neobarock, innen Rokoko, Chinoiserien, mauretanische Schnörkel und Louis Seize.
    »Was heißt hier: in welchem Stil?«, brüllt der Großindustrielle Poznański seine Palastarchitekten an. »Ich kann mir alle Stile leisten!«
    Wenn unter den Palastfenstern eine Straßenbahn vorbeirattert, klirren im 500 Quadratmeter großen Saal die Glastropfen der Kronleuchter, als ob sie noch immer unter dem Widerhall dieser Stimme erzitterten. F. steht mitten in meinem Zimmer und lauscht. Er spürt den Echos und Schatten nach, dem dreisprachigen Geplauder mit vielen deutschen Stimmen darunter, den ächzenden Schritten stattlicher Männer, die keine Webmeister mehr sind, sondern Baumwollfürsten und Barchentbarone. Niemand von ihnen ist von Adel, aber sie haben lang genug untereinander geheiratet, um wie am Königshof miteinander verwandt zu sein. Halb im Spaß, halb schon im Ernst nennt man sie die Fabrikantenaristokratie. F. riecht Zigarren und hört das Klatschen von Spielkarten auf poliertem Holz, er sieht in teure Stoffe gehüllte Damen rund ums Klavier beim Tee und lässt barfüßige Jugendstiltöchter in transparenten Gewändern und mit langem, offenem Haar durch die Zimmerfluchten wehen. In den dunklen Ecken jedoch, hinter offen stehenden Flügeltüren und bunt gekachelten Berliner Öfen nistet und brütet der Untergang, die böse Fratze noch zur Wand gekehrt. Bald wird er sich umwenden, hervorkriechen und hässlich in die edlen Zimmer grinsen. Der erste Stoß wird das vielköpfige, polnisch-jüdisch-deutsche Wesen schwer verwunden, ihm gerade genug Leben lassen für zwanzigjährige Agonie. Bis zum zweiten Stoß, der es zerreißen und töten wird. F. hat glasige Augen.
    »Das nenne ich engagierte Recherche«, sage ich. »Trotzdem fährt Theo nach Lodsch. Und nicht du.«
    Dann feiern wir ein großes Fest / Das uns die Welt vergessen lässt. – Weil die Straßenbeleuchtung ausgefallen ist, gerät Theo jedes Mal ins Taumeln wie eine lichtsüchtige Motte, wenn er einen der beleuchteten Torbögen passiert. Hinter der Bergkette dunkler Gebäude, deren Kämme er nur mit zurückgelegtem Kopf betrachten kann, reihen sich Hinterhöfe wie die Mägen einer Kuh. Theo traut sich nicht hinein. So hoch Menschenarme reichen, sind die Mauern mit Graffiti bedeckt, erst schwarze und rote Sprühfarbe in

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