Alles auf dem Rasen
erster Schicht, dann Namen, Daten, Gedichtanfänge mit dickem Edding gemalt, und wenn Theo sich mit dem Gesicht zur Wand stellt wie vor einem Erschießungskommando, kann er die Feinstruktur aus Kugelschreiber- und Bleistiftschrift lesen. Er lernt, wen oder was er alles ficken soll und was Angehörigen verfeindeter Fußballclubs passiert, wenn sie aufeinander treffen. Laut ruft Theo in einen Eingang hinein und ist sicher, das Echo zwischen den engsitzenden Wänden in ein paar Stunden noch hören zu können.
Gerade erst angekommen, glaubt er, der letzte Mensch in der Stadt zu sein. Der bläuliche Schein laufender Fernseher, das Glimmen übrig gebliebener Weihnachtsdekorationen und das lichtverzehrende Flackern schmutziger Neonröhren helfen nicht gegen Dunkelheit und Einsamkeit. Statt Türen verschließen Metalltore ohne Griffe oder Klinken die Eingänge. Manche der vergitterten Fenster erreichen die Größe von Fußballtoren. Als Theo endlich wagt, ein Haus zu betreten, weil das Schild am Eingang »Live Music« verspricht, blickt er in einen halbdunklen, verrauchten Raum, aus dem das Geräusch rollender Würfel zu hören ist. Musik und Tanz und Eleganz spielen sich nur im Inneren vorbeirasender Autos ab.
Theo ist geschrumpft oder die Welt gewachsen, sie schlackert an ihm wie ein zu weit gewordenes Kleidungsstück. Schwarzbackige Löwen sehen von hoch oben auf ihn herab, während die Stadt mit erstarrtem Gesicht ins Weltall schaut. Irgendetwas ist schwer zu ertragen. Vielleicht Masse und Prunk der kastellartigen Fabriken, deren plumpe Türme jeweils zu viert in den Nachthimmel ragen. Die Säulenportale, die großen, geschmückten Fenster, die endlosen Reihen von Zinnen, die sich am Himmel festzubeißen scheinen. Vielleicht kann Theo Burganlagen nicht aushalten, die nicht für Menschen, sondern für mächtige Maschinen errichtet wurden. Vielleicht verzweifelt er am Verfall. Oder an der Ahnung, dass ihn all das etwas angeht.
Diesmal bin ich froh, als Freund F. mich unterbricht, indem er die Teile eines ausgedruckten Stadtplans quer über den Schreibtisch aneinander legt. Ich weiß ohnehin nicht recht, was mit Theo los ist.
»Dein Theo ist eine Memme«, meint F. »Nur zweihundert Schritte in östlicher Richtung würde er auf den längsten Boulevard Europas treffen. Da gibt’s sicher auch Menschen.«
Ein gewisses Gefühl der Bedrückung könne ihm allerdings zugestanden werden. Immerhin sei der Wald der Schlote gerodet, ein paar Schornsteine stehen sogar unter Denkmalschutz. Fabriken lauschen still dem Bröckeln der eigenen Mauern, sinnlos gewordene Luftschlösser aus Stein. Theo spüre die Geschichte, deutsche, polnische, europäische, Weltgeschichte, diese ewige, rasante Parabel aus Errichten und Vernichten.
Aus Geldmangel hat Łódź sich kein künstliches Gedächtnis errichtet und kann sich nur verschwommen erinnern. Vom Warschauer Ghetto hat jeder gehört, aber die ehemaligen Grenzen des vier Quadratkilometer großen Ghettos von Łódź erkennt nur der Eingeweihte: lang gezogene Baulücken im Stadtteil Bałuty, die einst der »Hygiene« dienten und heute schmale Parkflächen sind. Von 230000 Juden entgingen nicht mehr als 870 dem Tod. Eine einzige, winzige Synagoge versteckt sich noch heute im vierten einer Reihe von Hinterhöfen, wo ein deutscher Fabrikant sie als notwendigen Lagerraum verteidigte. Sie hat mehr zu berichten als jedes Holocaustdenkmal. Der größte jüdische Friedhof Europas wird von wuchernden Pflanzen zum zweiten Mal beerdigt. Auf dem evangelischen verfallen die Mausoleen der deutschen, auf dem katholischen die der polnischen Fabrikantenfamilien. Niemand geht spazieren, um seinen Nachnamen zu suchen. Überlebende Angehörige haben sich in alle Welt zerstreut, selten kommt einer zu Besuch, ein Enkel oder Urneffe von Kindermann, Geyer oder Herbst, und schüttelt den Kopf, weil ihm die Prachthäuser für Lebende und Tote, die seine Vorfahren erbauten, nichts mehr zu sagen haben.
Und gerade deshalb, vermutet F., fühle Theo die Zähne der Geschichte im Nacken. Weil Łódź sie nicht in Denkmälern, Schaukästen und Freilichtmuseen sperrt. Ungezähmt läuft sie nach wie vor durch die Stadt und greift sich jeden, den sie will.
Da packen wir das Glück beim Schopf / Und hauen alles auf den Kopf. – Eine Straße rumpelt heran mit erleuchteter Trambahn darauf und verschwindet um die nächste Ecke. Dahinter beginnt die Prachtallee, eine lichtstrahlende Schneise. Die Wohnhäuser sind mit steinernen
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