Alles auf eine Karte
den Laien zwar identisch aussah, allerdings ungleich leichter war. Außerdem hatte der Gehgips eine sogenannte Laufsohle, die es mir erlaubte, mit dem lädierten Fuß aufzutreten. Mein Arzt hatte gemeint, eine Fehlbelastung des Fußes könne auf Dauer für Probleme sorgen, deshalb solle ich so schnell wie möglich wieder normal gehen, aber ich war noch nicht so weit. So sehr ich mich auch bemühte, mein Hinken war nicht zu übersehen, weshalb mich die Kollegen im Büro neuerdings die Glöcknerin von K.A. Marketing nennen. Das hört man gern als junge Singlefrau.
Mein Flug ging am frühen Dienstagnachmittag. Am Flughafen gab es zunächst keine besonderen Vorkommnisse zu vermelden, doch am Check-in geschah dann ein kleines Wunder.
»Oh-oh«, machte die Dame hinter dem Schalter. »Wie es aussieht, ist die Economyklasse überbucht.«
Sie tippte wie ein Weltmeister auf ihrer Computertastatur herum, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
»Und das bedeutet?«
Wieder flogen ihre Finger über das Keyboard. Was tippte sie da bloß?
»Also, mal sehen …« – klick, klick, klick – »Sie haben ein nicht ermäßigtes, voll erstattungsfähiges Ticket für die Economy …« – klickediklick, klickediklick – »das heißt dann wohl …« – klick, klick, klick – »dass wir Sie in die erste Klasse setzen müssen.«
Ich riss die Augen auf. »Wirklich?«
Sie reichte mir lächelnd meine Bordkarte. »Wirklich. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.«
Ich schnappte mir meine Bordkarte und sprintete davon, ehe sie es sich womöglich noch einmal anders überlegen konnte. Okay, ehrlich gesagt bewegte ich mich ungefähr so schnell wie eine Schnecke auf einem Teller Honig, aber meine Sorge war ohnehin unbegründet.
*
Eine halbe Stunde später lehnte ich mich in meinem extrabreiten Ledersessel zurück. »Kommt da noch jemand?«, fragte ich eine Flugbegleiterin und deutete auf den leeren Platz neben mir.
»Heute nicht, Miss Bryson. Sie haben die ganze Reihe für sich.«
Hach, das war definitiv mein Glückstag. Über den Mittelgang hinweg mit jemandem zu plaudern ist ja noch in Ordnung, aber mal im Ernst, wer will auf einem Flug von der West- zur Ostküste schon gern zwischen zwei wildfremde Menschen eingezwängt sein? Zugegeben, meine Freundin Whitney hat ihren Mann im Flugzeug kennengelernt, und er hat sogar während einer Flugreise um ihre Hand angehalten (er hat den Ring in eine Tüte Erdnüsse geschmuggelt), aber so etwas passiert ja dann doch eher selten. In den meisten Fällen sitzt man neben einer betagten Dame, die einem viel zu plastisch von ihrer Gicht erzählt.
Die Beinfreiheit erwies sich als äußerst angenehm für meinen Knöchel, und sobald wir abgehoben hatten, brachte man mir sogar einen gepolsterten Hocker, auf dem ich den Fuß hochlagern konnte. Außerdem erhielt ich eine Cola Light und ein Schälchen mit Nüssen. Ich pickte mir zuerst alle Cashews heraus (eine Angewohnheit, die ich wohl bis ans Ende meiner Tage nicht mehr ablegen werde) und studierte dabei die Speisekarte. Es standen mehrere Gourmetmenüs zur Auswahl, und ich musste keinen Cent dafür bezahlen! Ich war begeistert. Als Nächstes las ich im Bordmagazin nach, welche Filme ich mir ansehen konnte. Ich sah auf die Uhr. Noch etwa fünf Stunden bis zur Landung in New York. Meinetwegen konnte der Flug ruhig dreimal so lange dauern.
Ich spähte nach hinten zu dem Vorhang zwischen Firstclass und Businessclass und dachte an den Vorhang noch weiter hinten, der die Businessclass vom gemeinen Fußvolk trennt. Ich hatte noch nicht allzu oft das Glück, ein Upgrade in eine bessere Klasse zu bekommen, aber wenn es passiert, erfasst mich jedes Mal unweigerlich ein völlig irrationales Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Passagieren in der Economyclass. Es ist, als würde ein fieses kleines Monster in mir hausen, das erst in zehntausend Meter Höhe zum Leben erwacht. Es ist grauenhaft, ich weiß, aber ich kann nichts dagegen unternehmen. Solange ich selbst in der Economyklasse sitze, habe ich überhaupt kein Problem mit den Leuten dort, aber steckt mich in die zweite oder gar in die erste Klasse, und ich mutiere im Nu zum blasierten Snob. Hoffentlich kommt nie jemand hinter mein Geheimnis.
»Verzeihung, Miss Bryson?«
Ich musste eingedöst sein, während ich so über die dunklen Seiten meiner Persönlichkeit nachgedacht hatte, denn nun schreckte ich aus dem Schlaf auf.
»Ja, was gibt’s?« Ich richtete mich auf und schüttelte den Kopf.
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