Alles auf eine Karte
wirken etwas geknickt.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln und nickte. »Alles bestens.« Diese Woche sollte es mal ausnahmsweise nicht um mich und meine Probleme gehen.
*
Am Samstagmorgen stand ich zeitig auf, wickelte mir eine Plastiktüte um den Gips und nahm eine lange, heiße Dusche. Als ich schließlich aus der Kabine stieg, war das Badezimmer von dichten Wasserdampfschwaden erfüllt, so dass man kaum noch die Hand vor Augen sah. Ich schlüpfte in den kuscheligen Hotelbademantel und ging nach nebenan. Vom Schlafzimmerfenster aus verfolgte ich das geschäftige Treiben unten auf der Straße. Das winterliche Manhattan präsentierte sich mir von seiner schönsten Seite; der nahe gelegene Central Park versank unter einer dicken, blütenweißen Schneedecke. Ich war natürlich nicht im luxuriösen Waldorf-Astoria abgestiegen, wo Cynthias Hochzeitsfeier stattfinden würde, sondern im etwas kleineren, aber nicht weniger noblen Plaza Athénée. Das Gebäude erinnerte mich an Buenos Aires und die europäisch angehauchte Architektur, die so typisch ist für die argentinische Hauptstadt. Ich hatte gleich nach meinem Collegeabschluss ein paar Wochen in Buenos Aires verbracht und mich Hals über Kopf in die Stadt verliebt, und erst recht in ihre attraktiven männlichen Einwohner. Kein Wunder, dass sich mein alkoholbedingtes Kuss-Syndrom während meines Aufenthalts dort besonders stark bemerkbar gemacht hatte.
Ich föhnte mir die Haare und ging dann nach unten. Die Hochzeitsfeierlichkeiten begannen erst um halb sechs; mir blieb also genügend Zeit, um etwas bummeln zu gehen, obwohl ich nicht vorhatte, mit meinem Gipsbein viel herumzuwandern. Aber ich wollte zumindest die unmittelbare Nachbarschaft ein wenig erkunden. Ich liebe Manhattan – das Flair und das Erscheinungsbild können sich von einer Straße zur nächsten so radikal ändern, dass man glaubt, man befände sich urplötzlich in einer völlig anderen Stadt. Schon die gewaltige Ausdehnung und die unerschöpfliche Energie von New York erfüllen mich stets aufs Neue mit ehrfürchtigem Staunen. Ich bin seit jeher überzeugter Stadtmensch, und ich sage immer, dass ich nur über meine Leiche San Francisco verlassen würde, um in irgendeinem Vorort zu versauern, aber New York verleiht dem Begriff »Stadt« einfach noch einmal eine völlig neue Dimension. Wann immer ich dort bin, fühle ich mich wie eine sommersprossige Landpomeranze, die mit einem Zuchtferkel unter dem Arm das erste Mal ganz allein die große Metropole besucht.
Eine Stunde später saß ich in einem Café und las die Zeitung. Als mein Handy klingelte, erschrak ich fürchterlich und hätte mir um ein Haar den Kaffee über den Schoß gekippt. Hastig kramte ich den Störenfried aus meiner Handtasche. Hm. Was war das für eine Nummer?
»Hallo?«
»Waverly?« Die Stimme am anderen Ende kam mir bekannt vor, aber woher?
»Ja?«
»Hallo, hier ist Kristina. Wir haben uns neulich im Flugzeug kennengelernt. Wie geht’s?«
Kristina? Kristina Santana? Das war ja ein Ding!
»Tag, Kristina. Mir geht es blendend, vielen Dank. Ich sitze gerade in einem Café in der Nähe meines Hotels. Wie geht es Ihnen?«
»Auch gut. Ich hoffe nur, dass es bald aufhören wird zu schneien. Na, egal, ich rufe Sie an, weil ich meinen Terminkalender vermisse. Ich weiß, es ist ziemlich unwahrscheinlich, aber haben Sie ihn zufällig gesehen? Ich kann ihn nirgendwo finden, und da dachte ich, vielleicht ist er ja im Flugzeug aus meiner Handtasche gerutscht und in der Ihren gelandet.«
Ich runzelte die Stirn. »Ihr Terminkalender, sagen Sie? Wie sieht er denn aus?«
»Er ist nicht besonders groß und hat einen dunkelgrünen Ledereinband.«
Ich klemmte mir das Telefon zwischen Schulter und Ohr. »Moment, ich sehe gleich mal nach. Also, was haben wir denn da … Geldbeutel … Lippenstift … Bürste … Lipgloss … Sonnenbrille … noch ein Lippenstift … Kugelschreiber … noch ein Kugelschreiber … und ein dritter Kugelschreiber … Meine Güte, was ich so alles mit mir herumschleppe … Tatsächlich, da ist er! Ein Terminkalender mit grünem Ledereinband. Wie peinlich. Ich habe keine Ahnung, wie der in meine Tasche kommt. Ich hoffe, Sie halten mich jetzt nicht für eine diebische Elster.«
»Unsinn, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich bin heilfroh, dass er wieder aufgetaucht ist. Eigentlich hätte ich mir längst einen BlackBerry zulegen sollen, aber diesbezüglich bin ich wirklich im Mittelalter stecken geblieben,
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