Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
war dafür verantwortlich, ich konnte die Ereignisse des Vorabends nicht so hindrehen, dass ich jemand anderem die Schuld dafür geben konnte.
Ellen saß da und sah mich nur an, mit festem Blick. Sie wirkte erschöpft, hatte graue Schatten unter den Augen, blutleere Lippen. Kein Make-up. Unordentliche Haare. Ein unscheinbares, ja sogar gewöhnliches Gesicht. Und doch hatte sie etwas Reines, Unverdorbenes an sich. Als ob man etwas ganz Natürliches, Authentisches betrachtete.
Ich bin schuld daran, dass sich Jack den Arm gebrochen hat.
Ich hatte das Gefühl, jemand würde mir einen Bildschirm dicht vors Gesicht halten, und ein Film wurde abgespielt, der mir alles zeigte, was ich die vergangenen drei Jahre getan hatte: Jede Textnachricht, jeden Anruf, jeden Brief, von dem ich wusste, dass Patrick ihn sowieso nicht lesen würde, alles bis zu jenem letzten sepiafarbenen Augenblick, als Jack und ich die Treppe hinunterfielen, war aufgezeichnet.
Ich schloss die Augen, aber es gab kein Entrinnen. Der Film lief unerbittlich weiter. Ich schämte mich so sehr, dass es mir die Luft abschnürte.
»Atmen Sie«, sagte Ellen. »Konzentrieren Sie sich nur auf Ihre Atmung. Einatmen, ausatmen. Einatmen und wieder ausatmen.«
Der Klang ihrer Stimme war wie eine altbekannte Melodie. Ichfühlte mich sofort in ihr gläsernes Arbeitszimmer mit Blick aufs Meer zurückversetzt. Ich lauschte gierig, als ob ihre Stimme Sauerstoff wäre, den ich dringend zum Überleben brauchte.
»So ist es gut. Ein und wieder aus.«
Ich öffnete die Augen und sah, dass sie sich zu mir heruntergebeugt hatte. Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Sie nahm meine Hand. Sie hatte kalte Hände. Meine Mutter hatte auch immer kalte Hände. »Kalte Hände, warmes Herz«, sagte sie immer.
»Sie kennen doch sicher Redewendungen wie ›ins Bodenlose fallen‹ oder ›ganz unten landen‹, nicht wahr?«
Sie wartete nicht auf Antwort. Ihre Stimme hatte sich unmerklich verändert. Sie sprach jetzt mit ihrer Berufsstimme.
»Das bedeutet den völligen Zusammenbruch – körperlich, geistig, emotional. Ich denke, genau das ist Ihnen jetzt passiert, Saskia. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein furchtbares Gefühl ist. So, als ob die ganze Welt zusammenbräche.«
Ich spürte ein Flattern in meiner Brust, als ob ein gefangener Vogel, der aufgeregt mit den Flügeln schlägt, darin hockte.
Ellen sprach weiter. »Aber das hat auch sein Gutes, es ist sogar etwas ganz Großartiges, weil es der Wendepunkt ist. Es ist ein Neuanfang. Von jetzt an geht es wieder aufwärts. Jetzt werden Sie sich Ihr Leben neu aufbauen. Sie haben sicher schon vorher versucht aufzuhören, nicht wahr? Aber dieses Mal werden Sie es schaffen.« Sie lächelte zuversichtlich. »Zum einen, weil Sie sich nicht bewegen können, die Ärzte haben mir gesagt, dass Sie sechs bis acht Wochen ans Bett gefesselt sind und danach noch lange an Krücken gehen müssen.«
Ich zeigte keinerlei Reaktion. Meine Zukunft kam mir wie etwas Unmögliches vor.
»Und zum anderen, weil Sie währenddessen eine Therapie machen werden«, fuhr Ellen fröhlich und voller Optimismus fort, so als diskutierten wir über gemeinsame Urlaubspläne. »Auf diese Art und Weise geht die Zeit auch schneller herum.«
Sie hielt einen Moment inne.
»Und sobald Sie wieder auf den Beinen sind«, fuhr sie fort, »ziehen Sie um.« Sie lächelte. »Das mag zwar anmaßend klingen, aber, na ja, ich finde, ich habe das Recht, anmaßend zu sein. Sie sollten aus Sydney wegziehen, möglichst weit weg. Damit Sie gar nicht erst in Versuchung kommen.«
Ihre Hand schloss sich fester um meine. »Ich nehme an, Patrick wird endlich eine einstweilige Verfügung gegen Sie erwirken. Rein rechtlich gesehen werden Sie sich künftig also von uns fernhalten müssen. Er wird das tun müssen, aber was ich brauche, ist ein Versprechen von Ihnen, und zwar hier und jetzt, das Versprechen, dass es vorbei ist, dass letzte Nacht das Ende war und heute der Anfang ist. Das Ende Ihres alten Lebens und der Anfang Ihres neuen Lebens. Versprechen Sie mir das?«
»Ich verspreche es«, sagte ich.
Sie tätschelte meine Hand. »Gut.«
Ich nahm die Schmerzen wieder wahr, sie krallten sich heimtückisch in meine untere Körperhälfte. Es fühlte sich an, als ob jemand mir absichtlich wehtäte. Ich versuchte, es zu akzeptieren, als meine Strafe, aber die Schmerzen waren zu heftig.
»Geben Sie sich einen Schuss«, sagte Ellen und drückte mir etwas in die
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