Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
richtige Bild gewesen. Erinnerungen durften nicht weggeschlossen werden. Das förderte das Verdrängen. Etwas mit Wasser wäre besser gewesen. »Reinigen Sie sich« oder etwas in der Art.
Ellen gähnte ausgiebig und machte sich nicht die Mühe, die Hand vor den Mund zu halten. Sie kam aus dem Krankenhaus und fuhr nach Hause. Es herrschte nicht so viel Verkehr wie sonst, die Leute blieben wegen des Sandsturms zu Hause. Der Windhatte sich ein wenig gelegt. Wolken verdunkelten jedoch noch den Himmel, und die ganze Stadt war mit einer dünnen, orangeroten Staubschicht bedeckt. Alles sah schmutzig aus. Eine Frau mit Mundschutz wischte den Fußboden in einem leeren Straßencafé. Eine Mutter stieg aus ihrem Auto und eilte davon, ein Kleinkind auf dem Arm, dem sie ein Handtuch über den Kopf geworfen hatte; es sah aus wie eines von Michael Jacksons Kindern, als diese noch klein gewesen waren und vor neugierigen Fotografen geschützt wurden. Dann joggte ein junger Mann in Shorts und T-Shirt vorbei, als ob er aus einem anderen Tag, einem sonnigen, ganz gewöhnlichen Tag mit blauem Himmel, herbeigejoggt wäre.
Warum hast du überhaupt mit ihr gesprochen?, würden alle zu ihr sagen. Du bist ja noch durchgeknallter als sie! Hast du ihr auch Blumen und Schokolade mitgebracht? Eine Karte mit Genesungswünschen?
Ellen schaute auf ihre Armbanduhr. Zwölf Uhr mittags. Sie dachte an die frühen Morgenstunden zurück. Es kam ihr so vor, als wären Tage seitdem vergangen, nicht Stunden.
Als sie sich vergewissert hatten, dass Jack außer dem gebrochenen Arm nichts fehlte, hatte Patrick beschlossen, ihn ins Krankenhaus zu fahren. Ellen konnte ihn verstehen. Er konnte nicht einfach herumsitzen und auf den Krankenwagen warten, er musste etwas tun, musste handeln, und vor allem musste er möglichst weit weg von Saskia. Er kochte innerlich vor Wut, Ellen konnte die Hitze spüren, die sein Körper abgab, als hätte er Fieber. Er solle ruhig fahren, sagte sie zu ihm, sie werde dableiben und auf den Krankenwagen für Saskia warten. »Du kannst nicht mit ihr allein bleiben«, protestierte Patrick, aber Ellen entgegnete, Saskia stelle in ihrem Zustand keine Gefahr dar (sie war halb ohnmächtig, atmete flach und hatte allem Anschein nach furchtbare Schmerzen), und sie könnten sie ja schlecht daliegen lassen und einen Zettel an die Tür heften für die Rettungssanitäter. Patrick war nicht in Stimmung für derlei flapsige Scherze. Rufen wir die Polizei, meinte er, sollen die sich um sie kümmern. Aber Ellen drängte ihn, sich auf Jackzu konzentrieren, der Junge sei wichtiger. Patrick ließ sich überreden.
Schließlich traf der Krankenwagen ein. Sie würden Saskia ins Mona-Vale-Krankenhaus bringen, sagten die Rettungssanitäter zu Ellen und ermahnten sie, langsam zu fahren, wenn sie nachkomme, sie solle sich keine Sorgen machen, Saskia sei in guten Händen. Sie gingen offensichtlich davon aus, dass Ellen mitkam. Also hatte sie sich angezogen und war zum Krankenhaus gefahren, wo sie, umgeben von Asthmakranken mit pfeifendem Atem, die unter dem Sandsturm noch mehr zu leiden hatten als gesunde Menschen, stundenlang in einem überfüllten Warteraum saß und Schundhefte las, ohne auch nur ein einziges Wort aufzunehmen. Irgendwann kam eine Krankenschwester und sagte, sie könne Saskia für ein paar Minuten sehen.
Zwischendurch hatte sie Patrick auf seinem Handy angerufen. Er hatte Jack in eine Privatklinik in Manly gebracht, wo sie darauf warteten, dass sein Arm eingegipst wurde. Er erkundigte sich nicht nach Saskia, er nahm offenbar an, Ellen sei immer noch zu Hause: Sie solle sich hinlegen und versuchen zu schlafen, sagte er.
Wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, dass sie nicht nur ins Krankenhaus gefahren war, sondern auch mit Saskia geredet hatte? Würde er sich hintergangen fühlen? Hatte sie ihn hintergangen?
Die Sache war nur die: Ellen hatte das Gefühl gehabt, das Richtige zu tun, als sie mit Saskia sprach – mehr noch, sie hatte das Gefühl gehabt, dass es unbedingt notwendig war, und zwar für sie beide.
Ellen dachte an die Verzweiflung in Saskias Gesicht, als sie in dem schmalen Krankenhausbett lag. Sie erinnerte Ellen an einen Menschen, der bei einer Naturkatastrophe alles verloren hat und der jetzt mit der Tatsache klarkommen muss, dass das Gerüst seines Lebens eingestürzt ist.
Aber war Saskia wirklich ganz unten gelandet? Was, wenn es nur die Schmerzen waren (die nach Auskunft der Krankenschwester erheblich sein mussten),
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