Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
stehlen wollen.
Eigentlich ist es eher umgekehrt: Sie hat mir mein Baby gestohlen. Ich hätte ein Kind mit Patrick haben können, wenn wir es weiter versucht hätten. Vielleicht wäre ich ja doch noch schwanger geworden.
Sie haben Jack geweckt mit ihrem Geschrei. Ich hörte ihn rufen. Ich wollte, dass sie sich beruhigten. Es gab doch keinen Grund, sich so aufzuregen.
Es war wie in einem Albtraum, wenn man plötzlich merkt, dass man splitternackt in einem Einkaufszentrum steht. Ein zaghaftes Stimmchen in meinem Kopf sagte: Saskia, jetzt bist du zu weit gegangen. Was würde Mum dazu sagen?
Mum wäre böse auf mich, weil ich Jack Angst eingejagt habe.
Sie wollten sich einfach nicht beruhigen. Patrick weigerte sich, mir zuzuhören. Er stieß mich weg, schubste mich. Plötzlich war alles ringsumher gelbstichig geworden – als ob wir uns in einer alten Fotografie befänden. Das sepiafarbene Licht verstärkte noch das Albtraumhafte, Unwirkliche der Situation.
Ich erinnere mich, dass Jack im Schlafanzug den Flur entlanggerannt kam, Augen und Mund vor Entsetzen weit aufgerissen. Die Stimme in meinem Kopf sagte: Das ist ganz allein deine Schuld, Saskia. Und dann stürzten wir beide die Treppe hinunter, ich habe noch versucht, ihn festzuhalten, damit er sich nicht wehtut. Es war furchtbar.
Das war das Letzte, woran ich mich erinnere. Im Krankenhaus bin ich wieder zu mir gekommen. Die Schmerzen in meiner unteren Körperhälfte waren kaum auszuhalten, es fühlte sich an, als ließe jemand aus großer Höhe Backsteine auf mich herunterprasseln. Dann sah ich Ellen, die mit dem Rücken zu mir am Fenster stand. Ich muss irgendein Geräusch gemacht haben, weil sie sich umdrehte und mich anlächelte. Sie sah nicht aus, als hätte sie Angst. Sie lächelte mir zu, als wäre ich ein ganz normaler Mensch, kein mörderischer Grizzly.
»Wir hatten einen schweren Sandsturm.« Das war das Erste, was Ellen in den Sinn kam.
»Ganz Sydney liegt unter einer Staubschicht begraben«, sagte sie. »Es sieht da draußen wirklich ziemlich apokalyptisch aus. Kein Wunder, dass Jack dachte, das Ende der Welt sei gekommen. Ich habe ja selbst im ersten Moment an eine Atombombenexplosion geglaubt.«
Saskia starrte sie mit ausdrucksloser Miene an, so als ob sie in einer fremden Sprache spräche.
»Man kann es offenbar sogar aus dem Weltall sehen«, fuhr Ellen fort. Sie holte tief Luft und setzte sich auf einen Stuhl an Saskias Bett. »Deshalb hat es heute Morgen so lange gedauert, bis der Krankenwagen kam. In der Stadt herrscht das totale Chaos.«
Saskia ließ ihren Blick langsam das Bett hinunter- und über die weiße Decke schweifen, mit der sie zugedeckt war.
»Sie haben einen Beckenbruch«, sagte Ellen. »Und Ihr rechter Knöchel ist auch gebrochen. Er muss vielleicht operiert werden, aber sie denken, das Becken heilt von allein wieder. Wenn Sie den kleinen Knopf da drücken, können Sie die Schmerzmitteldosis erhöhen.«
Stille trat ein. Ellen sah Saskia in die Augen, in ihre hellbraunen, fast goldfarbenen Augen, und diese hielt ihrem Blick stand. Es war ein aufwühlender Moment, so als ob die eigenartige Verbindung zwischen ihnen intimer als die zwischen zwei Sexualpartnern wäre.
»Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, was passiert ist«, begann Ellen.
»Jack«, sagte Saskia klar und deutlich.
»Er hat sich den Arm gebrochen. Aber sonst geht es ihm gut.«
Saskias Gesicht fiel in sich zusammen. »Das ist meine Schuld.«
»Na ja«, sagte Ellen. »Das stimmt allerdings.«
Als Kleinkind hatte Jack eine Phase, in der er sich andauernd wehtat. Er schlug sich den Kopf am Couchtisch an, den Ellenbogen am Türrahmen. Kaum war ein blauer Fleck verschwunden oder eine Schramme verheilt, hatte er schon die nächste. Ich war irgendwo im Haus unterwegs und hörte ein Poltern, dann ein paarSekunden Stille und dann das herzzerreißende Gebrüll, und ich dachte: nicht schon wieder!
Einmal hat Patrick noch mit ihm gespielt, als es schon längst Schlafenszeit war, und ich sagte: »Okay, das reicht jetzt«, weil ich wusste, Jack war übermüdet, und es würde nicht lange dauern, bis wieder etwas passierte, und prompt fing er an zu brüllen und Blut zu spucken, weil er sich das Kinn angeschlagen und sich auf die Zunge gebissen hatte. Ich hatte eine Mordswut auf Patrick.
Ich schätze, ich habe den Jungen tausendmal ermahnt: »Pass auf!«
Und jetzt hatte er sich den Arm gebrochen, und ich war schuld daran. Daran gab es nichts zu rütteln. Ich allein
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