Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
die sich auf ihrem Gesicht gespiegelthatten, und nicht nackte Verzweiflung? Was, wenn sie nach ihrer Genesung dort weitermachen würde, wo sie aufgehört hatte?
Ihr Handy auf dem Beifahrersitz klingelte. Ellen sah, dass Patrick der Anrufer war. Wahrscheinlich war er inzwischen mit Jack wieder zu Hause und wunderte sich, dass sie nicht da war. Aber da sie in ein paar Minuten daheim sein würde, hielt sie nicht an, um das Gespräch anzunehmen.
Dieser Vorfall war ohne jeden Zweifel ein Einschnitt für Patrick. Jetzt, da Jack verletzt worden war, würde er nicht mehr zögern, die Polizei einzuschalten. Er würde ihr vermutlich nicht glauben, wenn sie ihm sagte, ihrer Meinung nach sei Saskia ebenfalls an einem Wendepunkt angelangt. Sie sah ihn im Geist wieder vor sich, wie er in diesem gruseligen Zwielicht quer übers Bett geklettert war, das Gesicht vor Angst und Wut zu einer hässlichen Fratze verzerrt.
Falls sie sich irrte und Saskia nicht aufhörte, sie zu stalken, würde Patricks Hass ihn allmählich zerstören wie eine ätzende Substanz, die ihn von innen her zerfraß und die jetzt schon scharfkantige Ecken in seine Persönlichkeit gefressen hatte. Meistens blieben diese Kanten hinter der Identität verborgen, in die er für seine Umgebung schlüpfte – die des besonnenen, offenen, unkomplizierten Kumpels. Doch im Lauf der letzten Monate, als sie die Phase der ersten blinden Verliebtheit hinter sich gelassen und Ellen ihn besser kennengelernt hatte, waren ihr diese eingeätzten Kanten immer öfter aufgefallen. Die Bitterkeit. Das Misstrauen. Die innere Unruhe. Und er hatte doch schon so viel Kummer und Leid in seinem Leben erfahren, bevor er Saskia begegnet war.
Sie fragte sich, was für ein Mensch Patrick wohl wäre, wenn Colleen nicht gestorben wäre. Sie hätten wahrscheinlich noch mehr Kinder bekommen. Patrick wäre der typische Dad gewesen, der sich zwar um die schulischen Belange gekümmert, die häuslichen Entscheidungen jedoch seiner Frau überlassen hätte. Er wäre ein ausgeglichenerer, liebenswürdigerer Mensch gewesen. Ein glücklicherer Mensch.
Und das winzige Baby, das ihnen gestern zugewinkt hatte, hätte nie existiert.
Ach, was soll’s. Dieser Gedankengang war ebenso dumm wie sinnlos.
Ellen gähnte abermals. Sie war nicht nur todmüde, sondern hatte auch einen Bärenhunger, wie sie ihn vor ihrer Schwangerschaft nie verspürt hatte. Sobald sie zu Hause war, würde sie sich mit einem riesengroßen Teller voller Toastbrote und einer Tasse Tee ins Bett fallen lassen, und nach dem Essen würde sie sich die Decke über den Kopf ziehen und hoffentlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf sinken. Sie würde Patrick sagen, sie sei zu müde zum Reden. Jetzt nur keine Diskussionen – nicht über die Vergangenheit, nicht über die Zukunft, nicht über die Gegenwart.
Er liebt mich nicht …
Hör sofort auf, fuhr sie sich im nächsten Augenblick an. Doch es war sinnlos. Auf irgendeiner Ebene hatte es sie seit dem Vorabend unentwegt beschäftigt. Es war ihr trotz allem, was passiert war, nicht aus dem Kopf gegangen und hatte das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein, nur noch verstärkt.
Er liebt mich nicht so sehr, wie er Colleen geliebt hat. Er hat Zweifel. Er sieht mich an und denkt an sie und stellt fest, dass es »nicht das Gleiche ist«. Er wird niemals eine andere Frau so sehr lieben, wie er Colleen geliebt hat.
Ellen überprüfte ihre Gefühle, bedächtig und zögernd, so als höbe sie vorsichtig ein Kleidungsstück an, um eine Schusswunde in Augenschein zu nehmen.
Tat es weh?
O ja, und zwar ganz schön.
Sie dachte an Saskias nüchterne Akzeptanz der Tatsache, dass Colleen für Patrick immer an erster Stelle stehen würde, und plötzlich wurde ihr etwas mit erschreckender Deutlichkeit klar: Ich liebe Patrick nicht mit der gleichen Bedingungslosigkeit wie Saskia.
Saskia war es egal, ob sie ihn mehr liebte als er sie. Ellen war es nicht egal. Verschenkte sie ein Stück ihres Herzens, erwartetesie, ein Stück exakt der gleichen Größe zurückzubekommen. Nein, eigentlich hätte sie gern ein größeres Stück, vielen Dank. Im Grunde wünschte sie sich nichts anderes, als vergöttert zu werden. Sie erwartete ein Kind. Sie hatte es verdient, vergöttert zu werden.
O Gott, das war einfach kindisch, oder?
Wie viele Frauen bekamen Kinder, ohne einen Partner zu haben, der sie vergötterte? Sie hatte einen Partner, der sie liebte . Das sollte ja wohl reichen! Sie hatte Glück! Sie dachte an
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