Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)
weiterer Aufschub der Sorge ermöglicht worden.
Viele körperliche und seelische Leiden entwickeln sich verborgen. Ein Karzinom sendet meist keine Frühwarnsignale. Andere Leiden kündigen sich früh an. Bluthochdruck, Übergewicht, Schlaflosigkeit und auffällige Geräusche im Ohr melden Warnsignale, aber wir laufen Gefahr, diese »kleinen Propheten« zu ignorieren. Und wenn wir nicht auf die Körpersignale hören, dann haben wir immer noch unsere Familie und enge Freunde, die uns sagen: »Eine Kugel Eis reicht!« Oder: »Nie den Teller nachfüllen!« Oder: »Abends einfach auf Kohlehydrate verzichten.« Oder: »Versuch’s mal eine Woche ohne Wein.«
Wer den Vorboten und Boten das Wort verboten hat, lebt riskant. Jeder ist frei, sie zu ignorieren, aber wir sollten wenigstens wissen, dass die Engel schon mal zu Besuch waren.
5.
Auf der Flucht vor der Diagnose
Wenn ich heute mit unseren Schwiegertöchtern, die beide in therapeutischen Berufen tätig sind, Kaffee trinke, erinnere ich mich manchmal daran, wie sie mich zum ersten Mal darauf aufmerksam machten, dass ich einen Tremor hätte und das unbedingt abklären lassen müsse.
Ihnen war längst aufgefallen, dass der Weg der zierlichen Tasse vom Tisch zum Mund nicht ganz normal verlief. Tremor? Ein typisches Symptom für Parkinson? Das hatte ich damals bei meiner panischen Internetrecherche in der Nacht auf der Wartburg zwar registriert. Doch seinerzeit war ich derart verunsichert und gestresst, dass ich meinen Rechner nach ein paar Klicks ganz schnell wieder runterfuhr. Zu der Zeit wollte ich das überhaupt nicht wahrhaben. Vielleicht war ich einfach nur total erschöpft.
35 Berufsjahre im bundesweiten Vortrags- und Beratungsdienst, seit 2002 Vorstandsvorsitzender einer Medienstiftung und Lehrbeauftragter an einer evangelischen Hochschule – mit 57 Jahren darf man doch wohl mal zittern, schließlich war ich schon Großvater.
Parkinson, das konnte doch gar nicht sein. Immer wieder fiel mir Papst Johannes Paul II . ein, der an Ostern und Weihnachten auch dann noch den Segen sprach, als er schon stark von seiner Parkinsonerkrankung gezeichnet war. Es hat mich immer tief berührt, wie dieser Mann sein Leiden so vorbildlich getragen hat. Doch davon fühlte ich mich nun wirklich weit entfernt. Warum sollte ausgerechnet ich, ein Ausbund an Gesundheit, von dieser »Krankheit der alten Leute« betroffen sein?
Eine so bedrängende Frage kann man nicht nebenher beantworten. Ich musste mal raus aus dem Trott. Also flog ich mit meiner Frau im Winter für drei Wochen ans Tote Meer. An einem der tiefsten, »totesten« und heißesten Orte der Welt würde mir das Zittern schon vergehen, dachte ich. Ich war oft dienstlich in Israel gewesen, aber jetzt ging es nicht um andere, die ich durch das Heilige Land führen sollte. Jetzt ging es allein um mich. Es war lange genug immer nur um andere gegangen.
Wir wanderten zweisam durch die einsame Wüste, völlig abseits der Touristenströme. In sengender Hitze durchquerten wir die Oase im Wadi Ein Bokek hinauf Richtung Arad. Als ich mit Walkingstöcken am Toten Meer entlanglief, starrten mich die Jogger belustigt an. »Are you waiting for snow, Sir?« – »Yes, I do!« Wir lagen ausgiebig in der Sonne, die 422 Meter unter dem Meeresspiegel wunderbar wärmt, ohne die Haut zu verbrennen. Zwischendurch nahmen wir immer wieder Bäder in der schweren Salzlauge des Toten Meeres, trieben regungslos auf der Wasserfläche. Lesen, beten, schweigen, früh zu Bett gehen – das war unser Tageszyklus. Die bromhaltige Luft machte herrlich müde. Wir genossen die totale Regeneration. Wenn ich hier nicht die Zitterpartie überwinden sollte, wie und wo und wann dann? Bei der Massage sprach mich die Therapeutin auf den Tremor an: »Lassen Sie das bald abklären!«
Da war es wieder, das Gefühl, ausgeliefert zu sein an diese neue Gewaltenteilung in meinem Leben. Bevor wir Krankheit als körperliche Fehlfunktion wahrnehmen, wird uns der Verlust der Freiheit bewusst. Darum ist jedes organische Leiden immer auch ein psychosomatischer Befund, eine den Leib und die Seele betreffende Krise. Unsere göttliche Bestimmung ist ein Leben in Freiheit. Wir sollen versöhnt und nicht mehr in teuflischer Abhängigkeit leben. Jede Krankheit dagegen beginnt mit dem Verlust an Freiheit. Wir begeben uns zwangsläufig in die Abhängigkeit von Lebensmitteln oder Medikamenten, die das imitieren, was uns fehlt, oder das bekämpfen, was uns zerstört. Ich leide nicht an
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