Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)
sensibilisieren, und verdrängen die nötigen Konsequenzen. Und so ziehen sie sich taktvoll zurück und überlassen uns unserem Schicksal. Gottes Boten drängen sich nicht auf, sie respektieren unser Recht auf ein freies und selbstbestimmtes Leben. Erst viel später erkennen wir in diesen dezenten Vorboten die Stimme Gottes.
Irgendwann in meinen frühen Fünfzigern stellte ich fest, dass ich mein Riechvermögen verloren hatte. Umgebungsgerüche konnte ich nicht mehr wahrnehmen und nicht differenzieren. Registrierte die feine Nase meiner Frau unterwegs einen »jauchzenden« Bauern, dessen Gülle-Tankwagen vor uns auf der Straße eine herbe Duftnote hinterlassen hatte, so konnte ich nur achselzuckend feststellen, dass ich außer dem Parfüm meiner Liebsten gar nichts roch. Hatte ich beim letzten Schnupfen womöglich etwas zu heftig mit ätherischen Ölen inhaliert?
So habe ich das Problem einfach weggedrückt. Heute weiß man, dass der frühe Verlust des Riechvermögens in vielen Fällen Vorbote einer neurologischen Erkrankung sein kann. Das war kein nasales Problem, denn ich konnte ja alles schmecken. Der Verlust des Geruchsinns hatte im Gehirn stattgefunden. Heimlich. Herr P. hatte irgendeine Leitung abgeklemmt. Was klemmt er demnächst ab, dieser Diabolos in meinem Hirn, dieser miserable Elektriker? Geht der eigentlich systematisch vor oder ist er chaotisch?
Nichts riechen zu können kann zuweilen ganz vorteilhaft sein, manchmal ist es aber auch ziemlich peinlich. Doch ich bleibe locker. Hauptsache, die Geschmacksnerven arbeiten ordentlich und ich kann weiter die liebliche Duftnote meiner Frau erkennen.
Ein weiterer Vorbote war die Störung meines Gleichgewichts. Wann immer ich vom Sitzen in die Vertikale wollte, musste ich mich schwankend ausbalancieren. Ich bin ja gelernter Zimmermann. Für diesen Beruf muss man absolut schwindelfrei sein. Wie oft bin ich früher in schwindelnder Höhe ohne Fangnetz völlig trittsicher über das Gebälk gelaufen. Das war ein Höchstmaß an Körperkontrolle, besonders wenn man schwere Balken auf der Schulter hatte. Nun schwankt die Achse des aufrechten Gangs. Und immer schwingt die Sorge mit, man könnte mich für betrunken halten.
Ein anderer Vorbote meldete sich beim Schwimmen, wo ich nur mit Mühe einen graden Kurs halten konnte. Ich schwamm immer Linkskurven. Ich auf Linkskurs? Da hatte Herr P. einfach mal den inneren Kompass manipuliert.
Aber ich habe die Signale verdrängt, habe den Vorboten verboten, mich früh zu warnen.
Ein anderes Ereignis warnte mich im Oktober 2008. Einer meiner Vorstandskollegen wurde als Rektor eines großen Diakoniewerkes in Mittelfranken in den Ruhestand verabschiedet. Nach einer Reihe mehr oder weniger unterhaltsamer Redebeiträge folgte mein Auftritt, der eigentlich locker und freihändig kommen sollte. Als ich meine Laudatio vortragen wollte, hatte ich mein Urerlebnis: eine derart heftige Zitterattacke, dass ich mit kesser Lippe, aber auch mit schlotternden Knien eine erbärmliche Figur abgab. Ich war dort als Referent gut bekannt, sodass sich viele Sorgen um mich machten und sich erkundigten, ob alles in Ordnung mit mir sei. Mit gespielter Stärke wies ich da noch alle Fragen zurück. Nein, mir geht es gut! Nach dem Auftritt war ich wieder im souveränen Bühnenmodus, ein Meister im Verdrängen kleiner Schwächen. Bloß nicht so viel Theater machen. Ich bin doch immer wieder schnell auf die Beine gekommen.
Körperlich und seelisch ging es mir eigentlich meistens gut. Sicher, es gab unterschiedliche Tagesformen, aber von zwei Fahrradstürzen abgesehen war ich so gut wie nie krank. Und die Stürze wären vermeidbar gewesen, wenn ich vernünftig gefahren wäre.
Es kam selten vor, dass ich mich so richtig schwach fühlte. Dafür habe ich viel zu gern und motiviert gearbeitet. Mein Ego hat es stets genossen, wenn man mich 50er für einen 40er gehalten hat. Doch nun war sie da, die geheimnisvolle und unberechenbare Krankheit, die den gefühlten Vorsprung ewiger Jugend drastisch verkürzen sollte. Und auf einmal sah ich so alt aus, wie ich tatsächlich war. Und vor allem fühlte ich mich auch so.
Einen Tag nach meinem »Urerlebnis« sollte die Hochzeit unseres zweiten Sohnes stattfinden. Die beiden Glücklichen hatten mich gebeten, sie zu trauen. Ich war auf das Schlimmste eingestellt und rechnete damit, dass der Trauakt vor dem Altar ein Zitterdesaster werden würde. Aber alles ging gut! Es war ein wunderbares Fest. Und wieder war mir ein
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