Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)
akustisch in den Gehörgängen. Wenn ich früher Georg Friedrich Händels Orgelkonzerte oder Bachs Orchestersuiten gehört habe, dann vibrierte ich am ganzen Körper. Musik hat bei mir schon immer »subkutan« gewirkt, sie geht unter die Haut. So, wie es Herbert Grönemeyer in seinem anrührend rockig-romantischen Lied »Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist« über ein taubes Mädchen beschreibt. Der kirchliche Klassiker »Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen« bringt genau das zum Ausdruck: mit allen Sinnen – mit Leib, Seele und Geist den besingen, der uns begabt hat.
Als wir Ende der 80er-Jahre in Chicago lebten, besuchten wir ein Open-Air-Konzert im Ravinnia Park, nicht weit vom Lake Michigan entfernt. Tausende Menschen saßen – umgeben von Picknickkörben – auf dem Rasen und lauschten einem Revival-Konzert mit »Peter, Paul and Mary«. Da liefen alle Lebensfilme rückwärts in die Zeit von »How many roads« und »Puff, the magic dragon« und der sprichwörtlichen 68er-Jahre. Wenn diese neumodische Phrase »Was macht das mit mir?« Sinn ergeben soll, dann hier. Musik macht was mit mir. Musik bewegt Leib und Seele.
22 Jahre später, an einem kühlen Juniabend 2012, waren meine Frau und ich mit befreundeten Ehepaaren beim Rheingau-Musikfestival in der Basilika des Klosters Eberbach. Wir versuchen jedes Jahr früh genug eines dieser begehrten Konzerte einzuplanen. Ludwig Güttler mit dem Kammerensemble »Virtuosi Saxoniae« spielte Bach, Händel, Telemann, Mozart und den mir bis dahin unbekannten Johann Friedrich Fasch. Obwohl wir nur noch in der 44. Reihe Platz gefunden hatten, erreichte mich diese göttliche Musik ganzkörperlich. Das erstklassige Kammerorchester befächelte ein andächtiges Auditorium mal mit scheuen, zarten und filigranen tonalen Kreationen, um sie im nächsten Satz im Fortissimo-Format derart heftig zu bestürmen, dass man im Stillen den Baumeistern der Zisterzienser für ihre solide Arbeit vor 875 Jahren dankte. Dieses Klangerlebnis »bewegte« mich und breitete sich heilend über mein gebrechliches Gemüt aus. Ich spürte Himmelssehnsucht, ich sehnte mich nach Erlösung aus dem Zittergefängnis eines so schönen und doch so vergänglichen Lebens.
Musik entrückt mich immer wieder vorübergehend in den Himmel. Himmel ist ja kein Ort, Himmel ist ein Zustand, eine Qualität: die ungetrübte und vollkommene Gemeinschaft mit Gott.
Auf dem Weg zu diesem ultimativen Finale verlieren wir alle – ob gesund oder krank – nach und nach die Fähigkeit der Reproduktion unserer Zellen. Wir bauen ab. Irgendetwas geht irgendwann nicht mehr. Ich gebe gern zu, dass der Titel »Alles außer Mikado« nach und nach verschämt weitere Untertitel aufweist: Es geht alles außer Klavierspielen, alles außer Gesangssoli, alles außer liturgischen Handlungen, alles außer Zweihändig-Computerschreiben, alles außer feinmotorischer Heimhandwerkerschaft.
Mit der Musik ging es los. Ich war der geborene Sänger. Nach Beendigung der aktiven Zeit als Chordirigent und Solist musizierte ich mit zwei begabten Musikern unserer Gemeinde einmal im Monat im Gottesdienst. Klavier, Gitarre und dreistimmiger Männergesang. Neben den diversen Musikteams aus der Jugendarbeit unserer Gemeinde hatten wir einen festen Platz in der Liturgie. Die Gemeinde liebte unseren Stil und das eher klassische Repertoire. Aber irgendwann hat sich Herr P. auch in diesem Lebensbereich frech niedergelassen und dafür gesorgt, dass jeder Auftritt zunehmend zu einer Tortur für mich wurde. Die Lieder haben mich so tief berührt, dass der linksseitige Tremor immer stärker meine Auftritte beschädigte. Zunächst konnte ich vor lauter Zittern die Notenblätter nicht mehr sortieren, dann wurde es schwierig, das Mikrophon zu halten. Irgendwann fiel es mir schwer, mich am Stativ festzuhalten, und schließlich konnte ich beim Singen nicht mehr stehen. Zunächst habe ich es mit einem Hocker versucht, aber auch das war auf Dauer keine Lösung. Ich musste einsehen, dass solche Auftritte künftig mühsamer werden. Als ich das erste Mal meine beiden Musikerkollegen allein auf die Bühne lassen musste, brachen die Tränen aus meiner verletzten Seele. Das war der erste Abschied von einer mir lieb gewordenen Aufgabe im Gottesdienst.
Geschüttelt und gerührt – frei zitiert und dezent variiert nach James Bond – das ist die treffende Beschreibung meiner neuen Befindlichkeit.
Mit welcher Begeisterung habe ich früher Gitarre und Klavier
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