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Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)

Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)

Titel: Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Mette
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gespielt – eher laienhaft, improvisiert, nie nach Noten! Wie oft ging ich früher spontan zum Klavier, wenn kein gelernter Pianist da war! Das gehört nun der Vergangenheit an. Das zweihändige Klavierspiel geht inzwischen nicht mehr so gut. In diesem emotionalen Lebensbereich, der mir persönlich so viel bedeutet, hat Herr P. nun das Sagen. Und der versteht nichts von Musik, gar nichts!
    Das gilt auch für die Sympathie und Empathie gegenüber Schwachen. Ich habe an menschlichen Schicksalen schon immer stark Anteil genommen. Am Bett schwer kranker Menschen oder am Sarg mir nahestehender Menschen wurde ich schon immer dünnhäutig. Ich kannte mich oft selbst nicht mehr wieder.
    So bat mich meine Mutter schon vor Jahren, sie einmal zu beerdigen. Ich möge wenigstens die Trauerpredigt übernehmen. Diesen letzten Dienst hätte ich meiner geliebten Mutter so gern erwiesen, aber ich musste ihr inzwischen absagen. Es geht einfach nicht mehr. Eine Trauerfeier braucht einen seelisch und körperlich gesunden Geistlichen, sonst sargt der Sargsorger versehentlich den Seelsorger ein.
    Was ich auch vermeide, sind feierliche Amtshandlungen, wie zum Beispiel Trauungen. Wenn das Brautpaar schon nervös ist, braucht wenigstens der Traupastor eine ruhige Hand, besser noch zwei. Traupredigten übernehme ich gern, aber feierliche Rituale überlasse ich besser den zitterfreien Amtskollegen.
    Seit 20 Jahren bin ich an der Ordination von Absolventen der Evangelischen Hochschule Tabor beteiligt. Im 20. Jahr meiner Vorstandstätigkeit im Stiftungsrat musste ich mich vorerst aus dem Dienst öffentlicher Amtshandlungen zurückziehen. Das verträgt sich nicht mit den heftigen Zitterattacken, die sich allein beim Anblick der Absolventen einstellen, die ich im Unterricht prägen und begleiten durfte. So kommt eins zum anderen. Es wird mehr als Mikado sein, was künftig nicht mehr geht.
    Aber ich will meine Lebensberufung nicht aufgeben. Ich kenne keine Aufgabe, die mich mehr erfüllen könnte, als Menschen durch Predigt und Lehre geistliche Orientierung zu geben. Trotz Parkinson. Bei abstrakten Lehrvorträgen ist das auch kein Problem, aber bei Predigten werfe ich mein ganzes Gemüt in die Waagschale. Authentisch predigen heißt ja zunächst mir selbst zu predigen, mich selbst dem Anspruch des Wortes Gottes zu stellen, von mir und meinen Zweifeln und Anfechtungen zu sprechen. Ich lege den Bibeltext aus, der mich in der Predigtmeditation tief berührt und mich ins Gespräch mit Gott getrieben hat.
    Es ist eine erschütternde Erfahrung, dass der Tremor immer dann einsetzt, wenn ich Gelassenheit brauche. Ich bekomme eine Ahnung von der Bedeutsamkeit der biblischen Formel »mit Furcht und Zittern«. Meine Kanzelauftritte werden zaghafter, zerbrechlicher, sind nicht mehr so formvollendet in der Performance.
    Ich kann nicht mehr vollmundig predigen, seitdem ich jeder Predigt entgegenzittere: Gelingt es oder gelingt es nicht?
    Die verblüffende Einsicht lautet: Bisher ist es immer gelungen. Aber ich kläre vor den Auftritten die Konditionen. Ich brauche ein festes Pult. In einer Zeit des filigranen und transparenten Kanzelmobiliars oder des gänzlich pultfreien und freihändigen Predigtstils bin ich an dem Punkt angekommen, wo ich wieder für eine wuchtige und standfeste Kirchenkanzel dankbar bin. Massive Eiche, eine Festung, ein Turm. Eigentlich bin ich viel lieber dicht bei den Hörern. Die »Bütt« ist mir viel zu weit weg, aber jetzt bin ich auf einmal auf den Schutz dieses stabilen Gehäuses angewiesen, um meine Standfestigkeit zu sichern.
    Etwas Festes braucht der Parki. Wackelige Stehpulte und strauchelnde Notenständer gehen überhaupt nicht. Gläserne Kanzeln? Bitte nicht! Ich bin froh, wenn ich mein schlotterndes Fahrgestell hinter der Kanzelwand verbergen kann. Und die Dinger müssen möglichst geräumig sein, denn Herr P., meine lästige schlechtere Hälfte, steht ja immer mit mir auf der Kanzel. Er drängelt sich immer stärker nach vorn.
    So hatte ich im Januar 2011 im ehrwürdigen Bremer Dom zu predigen. Das riesige Kirchenschiff war fast voll besetzt, als mich der Dompfarrer zu meinem Platz geleitete. Mit Schrecken sah ich ein leichtfüßiges Lesepult neben dem Altar stehen. Ich bat den Hausherrn, den Treppenaufgang zur Kanzel aufschließen zu lassen. Die Kanzel wurde offenbar nur selten genutzt. Man versprach mir, den Küster zu informieren und ich war beruhigt. Der Chor schickte das letzte Lied mit beeindruckendem Nachhall durch das

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