Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)
meiner Krankheit nachvollziehbar ist. Nichts ist nachvollziehbar, es sei denn, die Nachvollzieher kämpfen selbst mit Herrn P. oder einem ähnlichen Leiden.
Ich werde nie vergessen, wie ich in der Universitätsklinik Erlangen einen todgeweihten Freund besuchte und zufällig noch ein anderer, mir unbekannter Mann ins Intensivzimmer kam. Ein anstrengender Phrasendrescher am Bett eines Todeskandidaten. Er dominierte die Konversation mit Belanglosigkeiten. Zum Abschied haute er dem Patienten auf die Schulter und rief allen Ernstes »Kopf hoch, Alter. Unkraut vergeht nicht!« Dann war er verschwunden.
Ob ein Leben gehalten und geborgen ist, das merkt man schnell an den Kommentaren, die angesichts des Todes mal verlegen, mal pausbäckig abgesondert werden. Wie viel geistige Armut und Hilflosigkeit wird da offenbar. Und wie viel Kraft geht von denen aus, die schweigen, leiden, um Worte ringen und vielleicht ein Gebet für den Patienten sprechen oder ein Trostlied singen können.
Sir Peter Ustinov hat einmal gesagt, dass es in einem abstürzenden Flugzeug keine Atheisten mehr gebe. Ich behaupte, dass es am Bett eines Todkranken, der für die Ewigkeit geborgen und im Glauben getröstet ist, keine Atheisten mehr gibt. Wer keine Hoffnung auf ein Leben danach hat, der hat am Bett eines Schwerkranken vielleicht nichts zu sagen, wohl aber etwas zu suchen.
11.
Vom Risiko der Nebenwirkung
Wie antworte ich nun auf all die besorgten Fragen zu meinem Ergehen? Die Ursache von P. ist immer noch verborgen. Es gibt aus medizinischer Perspektive keine Aussicht auf Heilung. So bastelte ich mir eine laienhafte Erstinformation zusammen, eine kompakte Version für das Telefon sowie den eiligen Na-wie-geht’s?-Typen und eine ausführliche Variante für die empathischen Freunde, die mit uns einen ganzen Abend verbringen. Meine Frau mahnt mich oft, nicht zu viele Worte zu machen. Es gibt schlimmere Schicksale, da wollen wir uns lieber hinten anstellen.
Morbus Parkinson ist eine chronisch neurologische Erkrankung, die zunehmend früher auftritt. Ich leide an einer Störung im unwillkürlichen Automatikbereich, hervorgerufen durch eine Störung des Transmitter-Gleichgewichtes. Die medizinische Hilfe besteht in der Verabreichung von künstlichen Dopaminen (L-Dopa), welche die Symptome kontrollieren und möglichst lange auf einem Niveau halten, damit die Patienten einigermaßen zurechtkommen. Die Dosierung und die Kombination diverser Präparate ist die hohe Kunst der Parkinsontherapie und braucht viel Erfahrung. Wenn diese Maßnahmen ausgereizt sind, bleibt in bestimmten Fällen die Implantation eines Hirnschrittmachers. Aber diese Perspektive schiebe ich weit weg.
Was hatte Sören Kierkegaard gesagt? Die Sorge für den morgigen Tag ist Ausdruck einer heidnischen Lebenshaltung. Ich lebe heute; es ist genug, wenn jeder Tag seine eigene Plage hat und dass jeder Tag ein unwiederbringliches Geschenk Gottes ist.
Nach einem Qualitätsranking im Frühjahr 2012 belegt die Neurologie der Universitätsklinik Marburg den ersten Platz in der Parkinsonforschung. Ich wohne also »parki-geografisch« ideal zentral und bin froh, dass ich nach der Emeritierung »meines« verehrten Neurologen in Gießen nun in der Uni-Klinik Marburg hervorragend betreut werde.
»Wir begleiten Sie durch diese Krankheit«, sagte das Arztehepaar, nachdem beide meinen Parkinsonbefund diagnostiziert hatten. Die Pharmaforschung entwickelt heute Medikamente, die den Betroffenen wesentlich bessere Perspektiven ermöglichen. Das klingt gut, schließlich geht es um einen wirtschaftlich höchst lukrativen Markt. Aber was nützen sie mir und wann schaden sie mir? Werde ich eine Veränderung meiner Persönlichkeit erleben? Das ist meine eigentliche Sorge.
So begann meine Karriere als Pillenschlucker. Bin ich bald eine wandelnde Apotheke? Soll ich mir schon mal ein Silberdöschen für die Hosentasche oder ein Tagesregister mit Fächern und Uhrzeiten besorgen? In der Apotheke erfuhr ich den hohen Preis für diese Einstiegsdroge. Ich danke Gott für meine Krankenkasse, die den Stoff bezahlt.
Meine ersten Tabletten gehörten zur Gruppe der sogenannten Dopamin-Agonisten, einer Substanz, die das fehlende Dopamin imitiert. Nach einem Jahr gesellte sich eine zweite Tablette dazu, auch eine aus der Pharmafamilie der Agonisten. Wieder ein Präparat mit einem Beipackzettel, den zarte Seelen besser nicht lesen sollten.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich in meinem Leben so gut wie nie Tabletten
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