Alles außer Sex: Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein (German Edition)
nichts wusste, abgesagt habe, ist er ausgesprochen gut gelaunt. Das macht mich scharf. Mit meiner rechten Hand greife ich beherzt Carstens Oberschenkel, befeuchte meine Lippen, schiebe sie so erotisch wie möglich nach vorn und hauche mit heiserer Stimme: »Stimmt’s, mein Schöner, ich habe keine Macken, ich habe nur liebenswerte Besonderheiten!«
»Genau.« Carsten schaut auf die Uhr, springt auf und küsst mich. »Ich muss noch mal schnell los!«
»Wohin?«, frage ich bemüht locker.
»Das sag ich nicht! Das sag ich nicht!«
Der Cowboy steppt und wirkt dabei wie Rumpelstilzchen auf Ecstasy. Er grinst diabolisch und zieht die Augenbrauen hoch, als ob Pfeiffer-Plönsgen ihm ein Dreieck gespritzt hätte. Dann verlässt er viel zu schnell die Küche.
Besser spät als nie
Ich öffne die Augen und erblicke Chica. Sie sitzt direkt vor meinem Gesicht und schnieft. Ich muss lachen, weil sie schielt. Eigentlich müsste ich schnell aufstehen, weil ich noch so viel zu tun habe. Ich richte mich auf und öffne die Vorhänge. Die Bäume vor dem Fenster sind mit Reif bedeckt, der Himmel ist wolkenlos. Beim Gedanken an die nur wenige Zentimeter von mir entfernte Kälte draußen ziehe ich meine Bettdecke wieder über die Schultern. Ob Carsten schon wach ist?
Ich lausche in die Stille des Morgens und höre Schritte über mir. Heute ist der 23. Januar. Vor drei Jahren war dieser Tag mit minus 24 Grad der kälteste, den ich in Deutschland bis dahin erlebt hatte und gleichzeitig der wichtigste für mein weiteres Leben. Das ahnte ich damals schon. Heute, am Tag des abgesagten Termins unserer Hochzeit und damit unserem dritten Jahrestag, weiß ich es.
»Miä!« Chica stupst mich an. Ich ziehe sie an mich, was sie nur widerwillig mit sich geschehen lässt.
Die Zeit ist so schnell vorbeigegangen! Soll es wirklich schon drei Jahre her sein, dass ich Carsten das erste Mal traf? Die ersten zwei Carsten-Jahre kamen mir wie wenige Monate vor, unser drittes Jahr erschien mir dagegen ziemlich lang. Weil so viel Unerwartetes und Unbekanntes vorgefallen ist: Bandscheibenvorfall, Osteopathie, Egoismus-Erkenntnisse, Stiche vom Heilpraktiker und Spritzen von Pfeiffer-Plönsgen und über allem die abgesagte Hochzeit.
Nach der Absage ist eine riesige Last von mir abgefallen. Ich habe seitdem das Gefühl, nicht mehr mit Betonklötzen, sondern mit Sprungfedern an den Füßen unterwegs zu sein. Doing! Doing! Doing! In den letzten Wochen bin ich beschwingt durchs Leben gehüpft, habe nach und nach sämtliche Mythen und Dogmen einfach abgeschüttelt. Romantik? Doing! Weg mit den Vorstellungen naiver, jugendlich verwirrter Hirne! Das Leben ist auch liebenswert, wenn man nicht ununterbrochen Hand in Hand über eine Blumenwiese schlendert und jeden Grashalm zusammen schön finden muss; die Liebe lebenswert, wenn der eine amerikanische Serien und der andere » Popstars « guckt, der eine gern kocht und der andere lieber sehr viel isst und wenn nicht jede andere Meinung und jedes »Nein« als Liebesentzug empfunden wird.
Sex? Doing! Weg mit der Mythologie Testosteron-gepeitschter Körper. Wie schön es ist, seit ich nicht mehr jeden sexuellen Akt nach der Güte der Performance und der gesellschaftlich akzeptierten Quantität hinterfrage und spüre, dass tiefe Intimität und intensive Lebensfreude auch hormonell entspannt möglich sind. Bis vor kurzem war es mir wichtig, mich auszuprobieren unter dem Motto: »Viel Spaß, viel Kraft, viel Sex!« Ich habe mich immer mit anderen gemessen, wollte besser sein als Corinna, mehr Karriere machen als Günther Jauch und mehr Wissen erlangen als mein Papa. Ich wollte jedem gefallen. Ich glaube, das ist bei jungen Menschen relativ normal. Seit ein paar Wochen haben die positiven Effekte des Alterns eingesetzt. Ich muss mir nichts mehr beweisen, vor allem nicht sexuell. Wenn Carsten und ich Lust aufeinander haben, dann kann es Sex sein, muss aber nicht. Unsere Körper und unsere Erfahrungen diktieren uns nichts mehr.
Als ich beim letzten Mädelstreff von meinem Besuch auf dem Standesamt berichtete, nahmen meine Freundinnen diese für mich spektakuläre Tat ziemlich emotionsfrei hin, genauso wie mein Kumpel Ronny und meine Schwester. Niemand guckte mitleidig, keiner schrie nach einer Party, und meine Mama meinte nur, dann solle ich mich wenigstens mehr um Carsten kümmern und ab und zu mal auch mal was für ihn kochen. Das hätte sie nicht gesagt, wenn sie wüsste, dass die nicht vorhandene Kochkunst ihrer Tochter
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