Alles bleibt anders (German Edition)
Sprössling entsprechend zu integrieren. Sehr früh schon erreichte ich die Führungsriege der HJ. Ich verschaffte mir Respekt und Anerkennung, sogar bei größeren und älteren Kindern. Dass ich in meiner Militärzeit dann einer Ausbildungseinheit zugewiesen wurde, war dann nur die logische Konsequenz. Mit großer Freude und Genugtuung brachte ich den Rekruten bei, was es tatsächlich hieß, den Eid auf Führer und Vaterland geleistet zu haben.«
»Was es tatsächlich heißt?« Frank stand auf und seine Stimme überschlug sich. »Du warst einer von diesen unmenschlichen Schindern? Allein in meiner Wehrmachts-Ausbildung haben sich drei Männer meiner Kompanie im Manöver eine Kugel in den Kopf geschossen, weil sie nicht mehr weiter wussten!«
Karen stand auf, legte Frank die Hand auf die Schulter.
»Langsam, Frank, beruhige dich. Gib ihm etwas Zeit.«
Widerwillig setzte Frank sich wieder aufs Sofa.
Dieter unternahm keinen Versuch der Rechtfertigung und fuhr unbeirrt fort.
»Dennoch war es nicht mein Wunsch gewesen, für längere Zeit in der Armee zu dienen.«
Beim nächsten Satz klang er sogar versöhnlich. »Und jetzt kommen wir zu Parallelen zu deiner Geschichte, Frank, so weit sie mir bekannt ist. Schon sehr früh hatte ich mich für ein Medizinstudium entschieden. Mit dem Nachweis über vier abgeleistete Dienstjahre bei der Armee bekommt man ja ohne Probleme einen Studienplatz zugeteilt. Und meine herausragenden und vorbildlichen Beurteilungen von HJ und Wehrmacht ermöglichten mir, am renommiertesten Universitätsklinikum des Reichs meine berufliche Karriere zu starten: an der Charité. Zehn Semester vergingen, in denen ich mit großem Ehrgeiz all das lernte, was ein guter Chirurg wissen musste. Stets waren meine Leistungen – verglichen mit anderen Studenten – im oberen Drittel und schließlich nahm ich meine Doktorarbeit in Angriff. 'Karzinom und Metastasen – Erkennung und operative Entfernung', so lautete der Titel meiner Dissertation. Krebs hatte mich immer schon fasziniert. Ein ansonsten gesunder Körper, der vom Krebs befallen wird, schien mir ein Synonym zu sein, für unser Deutsches Volk, das sich in einem permanenten Kampf immer wieder den Geschwüren stellen muss, die es von innen und außen befallen. Doch auch bei mir kam, wie bei Herrn Gothaer, ein Zeitpunkt, an dem meine Loyalität ins Wanken geriet und schließlich kippte.«
Es fiel ihm schwer, weiter zu reden.
»Das dreißigstöckige Hauptgebäude der Charité, das in den Achtzigern fertig gestellt wurde, besitzt, was viele gar nicht wissen, auch acht Etagen unterhalb des Erdgeschosses. Man erreicht sie nur über spezielle Fahrstühle und den Studenten ist es in der Regel verboten, sich dort aufzuhalten. Meine Neugierde, was es mit den geheimen Stockwerken auf sich habe, hatte sich im Laufe der Jahre ins Unermessliche gesteigert und mein Doktorvater ermöglichte mir endlich den Zugang zu den Räumlichkeiten, damit ich weiteres Material für meine Doktorarbeit sammeln konnte. Er kündigte mein Erscheinen den dort unten arbeitenden Ärzten an und ein gewisser Dr. Martin Ballentin begrüßte mich mit einem zackigen 'Heil Hitler', als er mich direkt am Fahrstuhl abholte; seinen Namen hatte ich noch nie vorher gehört. Er berichtete mir, dass die hier unterhalb der Charité stattfindenden Forschungen und Experimente natürlich alle legal und von oberster Stelle genehmigt seien. Dennoch schien es der Klinikleitung der bessere Weg zu sein, die Stationen hier im Verborgenen zu halten. Ansonsten liefe man Gefahr, dass sie zu unverhältnismäßiger Aufmerksamkeit führten und es gäbe ja genügend Gesindel im Reich, das nur darauf warten würde, Wissen zu erlangen, das es für seine Zwecke nutzen könnte. Mir war immer noch nicht klar, worauf er hinaus wollte. Doch dann führte er mich in ein Krankenzimmer, in dem ein Patient auf einem Bett lag; erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es sich um eine Frau handelte. Sie lag nackt und unbedeckt vor mir. Über diverse Kabel war sie an die verschiedensten Maschinen angeschlossen; Schläuche führten ihrem Körper die benötigten Nährflüssigkeiten zu. Ihre Bauchdecke war geöffnet worden und ihre Organe lagen offen und bloß vor uns. Es wirkte gerade so, als hätten die Operateure gerade den OP-Saal verlassen. Es war selbstverständlich nicht das erste Mal, dass ich ins Innere eines menschlichen Körpers blickte, doch was ich hier sah, ließ mich erschaudern. Ihre Organe waren zum größten Teil
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