Alles bleibt anders (German Edition)
euch die weiteren Details. Die darauf folgenden Tage verbrachte ich ausschließlich auf meinem Zimmer im Studentenwohnheim und verließ es nur, um zu essen und zu trinken. Die starren Augen der Frau, die zum Sterben verdammt war, aber der der Tod nicht vergönnt war, verfolgten mich rund um die Uhr, in ständiger Begleitung von den heiser anklagenden Lauten des kleinen Mädchens. Meine Doktorarbeit war vollständig aus meinem Denken verschwunden. Meine Kommilitonen begannen sich zu sorgen, klopften an die Zimmertür, kamen herein und versuchten, mich aufzumuntern. Nichts half. Bis eines Tages meine beiden Studienkollegen Friedhelm und Walter, die ebenfalls kurz vor der Promotion standen, sich zu mir gesellten und mich ganz konkret verdächtigten, ich wäre in den unteren Stockwerken der Charité gewesen. Niemand hatte Bescheid gewusst, dass ich die Untergeschosse aufgesucht hatte, und da dort unten die höchste Geheimhaltungsstufe herrschte, war ich sehr überrascht, dass Friedhelm und Walter diese Vermutung äußerten. Dennoch: Ich war viel zu verzweifelt, um es zu leugnen. Sie wären ebenfalls dort gewesen, flüsterten sie dann, und sie wüssten, wie es mir gerade ginge. In ihnen war die gleiche Welt zerbrochen wie in mir. Wir tauschten uns aus, diskutierten, wie wir den Menschen dort unten helfen könnten und wie wir die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen könnten. Die Öffentlichkeit musste darüber informiert werden: Das war unser Plan. Und obwohl ich selbst so lange ein funktionierendes Rädchen in unserem geordneten System war, unterschätzte ich die Situation. Im Verborgenen bereiteten wir Pressetexte vor, druckten Flugblätter, die wir an öffentlichen Plätzen verteilen wollten und sondierten unter Kommilitonen, wer sich uns anschließen könnte. Nach Wanzen und Überwachungskameras hatte ich stets Ausschau gehalten, war stets wachsam geblieben. Dass mich jemand aus den eigenen Reihen ans Messer lieferte, damit hatte ich nicht gerechnet. Als wir – wieder einmal – zu einer Besprechung beisammen saßen, stürmten plötzlich fünf Männer ins Zimmer, zwei waren in Zivil, die anderen drei uniformiert. Schnell war klar, dass Friedhelm auf deren Seite stand. Er trat auf einen der beiden Zivilisten zu, schlug die Hacken zusammen, stand vor ihm stramm und rief lauthals 'Heil Hitler!'. Walter und ich wurden von den Gestapo-Schergen gepackt und abgeführt. Dass ich nicht hingerichtet wurde, verdankte ich wohl nur meiner tadellosen Vergangenheit bei Hitlerjugend und Wehrmacht. Nach achtzehn Monaten in Haft, wurde ich entlassen. Von Walter habe ich nie wieder etwas gehört, ich wage auch nicht, nach ihm zu forschen. Dass ich hier in Oxford nun Physik studiere, verdanke ich meinem Vater. Er selbst wolle mit mir nichts mehr zu tun haben, sagte er nach meiner Haftentlassung. Doch meine Mutter habe sich für mich stark gemacht und er habe sich für mich eingesetzt. Wie er es arrangiert hatte, brauche ich nicht zu wissen, meinte er. Er habe alles meiner Mutter zu liebe veranlasst und nicht meinetwegen. Ich solle nach Oxford gehen und jeglichen Versuch einer Kontaktaufnahme zu ihm oder meiner Mutter unterlassen. Sie hätten ab sofort keinen Sohn mehr, das war das letzte, was ich von ihm hörte.«
Mehreren Minuten der Stille folgten.
»Auch wenn ich Dieters Lebensgeschichte zum ersten Mal höre«, begann Frank, »sie überrascht mich keineswegs.«
Die Blicke der anderen wendeten sich ihm zu.
»Meinen eigenen Erfahrungen sind ähnlich.«
Er sah betreten zu Boden.
»Da war dieser russische Junge, er mochte so um die siebzehn gewesen sein. Mit einem Blinddarmdurchbruch war er zu uns ins Militärhospital eingeliefert worden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht verstanden, warum wir, die Wehrmacht, auf der einen Seite so rigoros und brutal mit der Bevölkerung auf der Krim umsprangen und uns andererseits tatsächlich um ihre gesundheitlichen Belange kümmerten. Als ich den Jungen am nächsten Tag im Bett liegen sah, schien es ihm unverhältnismäßig schlecht zu gehen und als ich ihn näher untersuchte, entdeckte ich, dass er mehrere Operationsnarben hatte; eine erstreckte sich sogar über mehr als dreißig Zentimeter. Da es mir nicht zustand, fragte ich nicht nach. Verwundert war ich dennoch und so blätterte ich in seiner Krankenakte. Akribisch war dort festgehalten, dass ihm eine Niere entnommen worden war und dass auch weitere Organe auf ihre Qualität überprüft und als entnahmetauglich katalogisiert worden
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