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Alles bleibt anders (German Edition)

Alles bleibt anders (German Edition)

Titel: Alles bleibt anders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Langer
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vom Krebs zerfressen, der Rest war über und über voller Metastasen. Unter normalen Umständen hätte diese Frau längst tot sein müssen. Ich habe immer noch Dr. Ballentins nüchtern-zynische Worte in den Ohren: 'Wir halten den Krebs künstlich am Leben. Die Beobachtung seiner Ausbreitung am lebenden Objekt gibt uns erstaunliche neue Erkenntnisse über seine wahre Natur.' Da sah ich der Frau ins Gesicht. Ihre Augen waren geöffnet, sie starrten ausdruckslos an die Zimmerdecke. Ich erschrak. Sie war bei vollem Bewusstsein, soweit man es noch so nennen konnte. 'Zudem erhalten wir wertvolle Ergebnisse, was das Schmerzempfinden betrifft; trotz der rassischen Unterschiede durchaus auch für Vergleichsmaßstäbe sehr nützlich.'«
Dieter stockte kurz und fuhr dann fort.
»Nur mit Mühe unterdrückte ich all die Emotionen, die auf mich einströmten und ein Ventil suchten: Fassungslosigkeit. Unglauben. Unverständnis. Wut. Zorn. Ekel. Hass. Gleichzeitig dachte ich an all den Enthusiasmus und die Ergebenheit, die ich in Bezug auf die Partei hatte. Ich redete mir ein, dass das, was ich da vor mir sah, nicht wahr sein konnte. Ich fand keine logische Begründung dafür, aber diese vom Krebs zerfressene Frau konnte nicht der Realität entspringen. Wo war ich? War ich wirklich im Universitätsklinikum der Charité? Oder doch nur in einem schrecklichen Traum? Wirkte dieser nüchtern schlachtende Halbgott in Weiß tatsächlich mit Zustimmung der Klinikleitung? 'Kommen Sie! Wir haben noch andere interessante Anschauungsobjekte!', riss Dr. Ballentin mich aus meinem beginnenden Selbstmitleid und führte mich zurück in den hell erleuchteten Krankenhausflur und von dort aus in ein anderes Zimmer. Es war ein etwa sechzig Quadratmeter großer Raum und an den Wänden befanden sich vier Käfige. Der erste war leer, im zweiten befanden sich drei noch nicht ausgewachsene Schimpansen. Zwei blickten zu uns, als wir eintraten, verharrten aber in ihrer sitzenden Position und näherten sich dem Gitter nicht. Das dritte Affenjunge lag mit dem Bauch auf dem Boden; zuerst hielt ich es für tot, entdeckte dann aber, dass es atmete. Den dritten Käfig bevölkerten zwei Negerkinder, sie waren nackt, ein Mädchen und ein Junge, beide maximal vier Jahre alt. Sie saßen apathisch aneinandergekauert in einer Ecke und nahmen uns gar nicht wahr. Im letzten Käfig schließlich drei Kinder im ähnlichen Alter wie die im dritten Käfig und mit ähnlichem Verhaltensmuster. Ihre Hautfarbe war heller als die von den Kindern im Käfig daneben, aber weitaus dunkler als unsere. Obwohl ich nie im Leben Zigeuner gesehen hatte, hielt ich sie sofort dafür. Eines der Zigeunerkinder bemerkte uns nun, seine Augen wurden groß und es löste sich von seinen Altersgenossen. Es näherte sich hinkend dem Gitter und blickte mich an. Ich erkannte, dass es ein Mädchen war. Weiterhin erkannte ich, dass es an mehreren Stellen des Körpers Geschwüre hatte: am Fuß, am Oberschenkel, am Hals. An der Stelle, an der das linke Ohr sein sollte, war nur noch eine formlose Masse zu erkennen. Als mein Blick nun über die anderen vier Kinder und auch über die Affenjungen schweifte, sah ich, dass sie alle von Geschwüren gezeichnet waren. Das Mädchen öffnete den Mund und es befanden sich lediglich zwei Zähne im Kiefer. Es stieß unverständliche Buchstabenkombinationen aus, hauptsächlich R-, K- und Ch-Laute, dazwischen immer wieder Vokale. Es hörte sich schrecklich an. 'Die können nicht reden', sagte Dr. Ballentin. 'Manchmal wäre es schon besser, wir könnten uns mit ihnen über ihre Beschwerden austauschen, dann könnten wir schnellere und exaktere Ergebnisse erhalten. Aber andererseits schafft es so auch die gebührende Distanz.' Ich stand fassungslos am Gitter und lauschte der krächzenden Stimme des gemarterten Kindes, während der Arzt neben mir einfach weiter redete. 'Worauf wir besonders stolz sind, ist, dass sie alle hier im Klinikum zur Welt gekommen sind. Sie haben noch nie das Tageslicht gesehen. Sie sollten sich unbedingt auch das Untergeschoss IV zeigen lassen. Da arbeiten unsere Kollegen von der Genetik, sie haben außerordentliche Fortschritte gemacht in den letzten Jahren. Vor uns sehen Sie die Ergebnisse. Das Reichs-Forschungsministerium ist sehr stolz auf die Charité. Sie haben ja keine Ahnung, was da demnächst noch auf uns zukommt.'«
Gothaer schenkte Dieter noch Wasser nach.
»Der Rundgang mit Dr. Ballentin sollte fast eine Stunde dauern. Ich erspare mir und

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