Alles bleibt anders (German Edition)
Reise in eine Ebene, in der es keine NSDAP gibt? Was soll das bringen, außer der Erkenntnis, dass diese Welt besser wäre als die unsere? Und diese Erkenntnis habe ich auch ohne Ihr Experiment.«
Karen nahm dem Professor die Stecknadel und den Papierstapel aus der Hand.
Sie legte ein leeres Blatt Papier unter den Stapel und setzte die Nadel am selben Feld 'Oxford/2004' an, steckte sie dann aber im spitzen Winkel völlig willkürlich durch den Stapel. Jetzt nahm sie das unterste Blatt und deutete auf das Loch, das die Nadelspitze erzeugt hatte. Sie zog einen Kugelschreiber aus ihrer Jackentasche und skizzierte um das Loch ein Rechteck mit den gleichen Ausmaßen wie die Ort-Jahreszahl-Felder der Tabelle.
»Wie Dieter gerade sagte, die Möglichkeit mittels des Korridors auch durch Raum und Zeit zu reisen, haben wir noch nicht!«
Dann schrieb sie links neben das Rechteck eine Jahreszahl und darüber einen Ort: '1889', 'Braunau am Inn'.
7
»Das ist alles ein bisschen viel, oder?«
Es war zwei Uhr nachts und Karen saß, den Rücken an die Wand gelehnt, auf Franks Bett im Studentenwohnheim. Die Beine hatte sie lang ausgestreckt, auf ihrem Oberschenkel ruhte Franks Haupt. Sanft massierte sie ihm die Schläfen.
»Ja«, bestätigte Frank ihre Frage. »Das kann man wohl sagen.«
»Uns anderen hat es Herr Gothaer auch nicht schonender beigebracht. Wir waren genau so wenig vorbereitet wie du.«
»Wenn du heute Abend nicht dabei gesessen und mir diese abstruse Geschichte bestätigt hättest …«
»Ja?«
»Ich hätte die ganze Runde für völlig verrückt erklärt. Ich hätte denen den Vogel gezeigt, wäre aufgestanden und gegangen, um den Abend sinnvoller zu verbringen. Dieser Professor Gothaer: ich komme nicht umhin, zuzugeben, dass er eine unglaubliche Ausstrahlung besitzt.«
»Nicht nur das.«
»Aber auch die vielen Napoleons in den Psychiatrien besitzen ein außergewöhnliches Selbstbewusstsein und ein überzeugendes Auftreten.«
»Professor Gothaer ist ein Genie.«
»Bekanntlich verschwimmt die Grenze zwischen Wahnsinn und Genie.«
»Der Professor weiß, wovon er redet.«
»Er glaubt , wovon er redet.«
»Nein, er weiß es.«
Frank setzte sich auf, sah Karen in die Augen.
»Hast du Beweise, Karen?«
»Nein«, sagte Karen etwas leiser. »Aber wir sind ja immer noch in der theoretischen Phase. Klarheit und Sicherheit bekommen wir erst nach praktischen Versuchen.«
Frank legte sich wieder hin, Karen legte ihre rechte Hand auf seine Stirn.
»Ihr wisst, dass ihr mit dem Feuer spielt.«
»Durchaus.«
»Und dass man euch alle ins Zuchthaus schafft, oder ins Kl.«
»Auch darüber sind wir uns im Klaren.«
»Oder man tötet uns auf der Stelle.«
»Oder man tötet uns auf der Stelle«, wiederholte Karen und bemerkte, dass Frank vom 'ihr' zum 'uns' gewechselt war.
»Karen«, Frank berührte mit seinen Fingern Karens Rechte, »ich glaube immer, du könntest mich mit nichts mehr überraschen und werde stets eines besseren belehrt.«
Sie schwieg.
»Wie stellst du dir das Ganze vor? Du setzt dich in Gothaers Zeitmaschine, reist ins Jahr 1889 und klopfst bei Mutter Hitler an der Tür? Sie öffnet dir, ihr Neugeborenes auf dem einen Arm, die Hand wischt sie sich an der Kittelschürze ab, weil sie gerade einen Gugelhupf gebacken hat und du sagst zu ihr: 'Entschuldigung, Frau Hitler, dass ich gleich Ihr Kind liquidieren muss, aber es wird ansonsten der größte und abscheulichste Massenmörder werden, den die Welt je gesehen hat. Da haben Sie sicher Verständnis für meine Vorgehensweise.' Und dann setzt du dem kleinen Jungen eine Pistole an die Schläfe und tötest ihn?«
Da Karen nicht antwortete, setzte sich Frank wieder auf.
»Könntest du das, Karen?«, fragte er eindringlich. »Könntest du das?«
»Wir haben es noch nie so konkret durchgespielt«, antwortete sie kleinlaut, »aber der Zweck heiligt die Mittel!«
»Der Zweck heiligt die Mittel, ja? Wir haben eine theoretische Möglichkeit gefunden, Geschehenes ungeschehen zu machen, ja? Wir stecken mal eben eine Stecknadel durch einen Papierstapel, ja? Ein chirurgischer Eingriff, nicht mehr, nicht weniger.«
»Bitte etwas leiser, Frank. Die Wände haben Ohren.«
Er wurde ruhiger.
»Ich frage dich noch einmal, Karen, ganz konkret, denn, wenn all das heute Abend Besprochene der Wahrheit entspricht, wirst du dich der Antwort früher oder später stellen müssen. Könntest du den kleinen Jungen töten?« Karen zögerte. »Ich denke an all das Leid, das er und seinesgleichen über die
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