Alles Boese mir vergib
antwortete er. Dann tätschelte er mir die Wange und ging. Ich zog mich um und ging zur Arbeit.
Vicki. Ah.
„Was ist mit deinen Knöcheln passiert?“, wollte sie wissen. Ich legte Brote auf ein Förderband, das langsam in einen Ofen rollte. Ich hatte es erst bemerkt, als ich mir die Hände gewaschen hatte. Zwei meiner Fingerknöchel waren aufgeplatzt. Sie klebte mir Pflaster drauf. Hielt meine Hände. Ich konnte sie mir ausführlich aus der Nähe anschauen, während sie den Schaden verarztete. Ihre Haare waren halblang, dunkel gefärbt. Sie trug kein Make-up, eine Jeans und hatte große Brüste. Böse Zungen hätten vielleicht behauptet, ihr Hintern sei ein klein wenig zugroß. Ihre Schneidezähne überlappten sich leicht. Plötzlich hob sie den Kopf. Ich wurde rot. Das passiert schnell einmal, wenn ich mich aufrege, aber selten aus Verlegenheit.
„So, Nicky, jetzt denkt kein Kunde mehr, dass du ein Schläger bist.“
„Ich bin doch auch kein Schläger.“
„Na gut, du bist also unschuldig. Du hast dir die Knöchel an einer Mauer aufgeschabt. Klar. Kein Problem.“
„So ist es nicht. Meine Schwester … Ihr Typ hat sie gestern geschlagen. Da hab ich ihn geschlagen.“
„Er hat sie geschlagen? Verdammt.“
„Ich bin ein bisschen zu weit gegangen.“
„Mich hat auch schon mal ein Freund geschlagen.“
„Hast du ihn verlassen?“, fragte ich.
„Natürlich. Sofort. Deine Schwester nicht?“
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, eher nicht.“
„Sag ihr, dass sie mich mal anrufen soll.“
„Möchtest du mit mir nach der Arbeit einen Kaffee trinken gehen?“, fragte ich.
„Mit dir? Na gut.“
Kaffee? Meinte ich das wirklich? Oder meinte ich: Willst du meine Freundin sein? Fahren wir nach Hause und schieben eine wilde Nummer? Sollten wir uns nicht besser kennenlernen? Findest du nicht, dass Kaffee super schmeckt? Warum lädt man jemanden auf einen Kaffee ein? Egal, ich war jedenfalls froh, dass sie Ja gesagt hatte.
Sie hatte ehrenamtlich in einem Kinderheim in Johannesburg gearbeitet, in Südafrika. Hatte eine Ausbildung an der Wirtschaftshochschule abgebrochen, weil es nur darum ging, Graphen zu berechnen, die zeigten, ob ein Unternehmen Gewinnabwarf. Jetzt wollte sie ein Jahr lang jobben, um danach wieder auf Reisen zu gehen. Sie hatte keinen Freund – gut zu hören – und wohnte bei ihrer großen Schwester in Islands Brygge. Sie mochte Pferde, Filme und Schwimmen. Sie hasste Männer und wäre am liebsten lesbisch, wenn da nicht das Sexuelle wäre. Sie lachte über meine Witze.
Ich konnte kein so eindeutiges Bild von mir geben. Meine Erinnerungen sind ziemlich bruchstückhaft. Ich erzählte ein bisschen von meinen Eltern, meiner Schwester, meinem Abgang vom Gymnasium. All das klärten wir im Laufe von zwei Tassen Kaffee im Granola .
„Was hast du dann nach den Sommerferien geplant?“, fragte sie.
„Sollte man das jetzt schon wissen?“
„Willst du weiter in der Bäckerei arbeiten?“
„Tja. Warum nicht. Da muss man sich kein Bein ausreißen.“
„Aber du bist schlau. Intelligent, meine ich. Willst du nicht lieber deinen Kopf einsetzen?“
„Ich bin nicht besonders schlau.“
„Oh doch. Ich finde, dass du verpflichtet bist, deinen Kopf einzusetzen.“
„Was ist mit dir?“, fragte ich. Ein klassisches Ablenkungsmanöver, das aber wohl nicht so rüberkam, weil es mich wirklich interessierte.
„Puh. Ich bin verwirrt. Ich werde ganz apathisch, wenn ich daran denke, was man alles tun sollte. Wir stehen in dieser beschissenen Bäckerei und glotzen raus auf Junkies, die nur an den nächsten Schuss denken. Das blaue Licht über den Scheißhäusern ist ihretwegen angebracht. Diese Typen warten nur darauf, dir deinen Geldbeutel klauen zu können. Was tun wir dagegen? Pole schmelzen, Menschen sind machtlos, Männerschlagen ihre Frauen, stimmt’s? Systeme, die funktionieren, obwohl sich keiner mehr daran erinnern kann, warum. Politiker, die nur darauf aus sind, ihren Kollegen das Messer in den Rücken zu rammen. Korruption, absolute Macht. Und gleichzeitig … will ich Kinder haben, auf einem Bauernhof leben, Puppenhäuser aus Ökoholz bauen und selbst Brot backen. Ich will Archäologie studieren. Etwas Harmloses machen. Mein Kopf? Ich weiß nicht recht …“
„Wo liegt denn dann der Unterschied zwischen uns beiden?“
„Darin, dass du intelligenter bist als ich. Hoffentlich. Vielleicht bist du weniger verwirrt.“
„Weniger? Dann hör dir mal das an …“ Ich erzählte ihr
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