Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
mit ihren zig Ländern, die bei diesem lächerlichen Mummenschanz vertreten waren, einem Spektakel, bei dem man unter dem Mäntelchen der Modernität, des Experiments und der Suche nach »neuen Ausdrucksmitteln« in Wahrheit nur die schreckliche Armut an Ideen, künstlerischer Kultur und handwerklichem Können, an Authentizität und Integrität dokumentierte, wie sie für einen großen Teil der bildnerischen Arbeiten heute kennzeichnend ist.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber es ist nicht einfach, sie aufzuspüren, denn anders als in der Literatur, wo die ästhetischen Codes noch nicht ganz zerfallen sind, mit deren Hilfe sich Originalität, Neuheit und Talent, Schludrigkeit oder Pfusch und Betrug erkennen lassen, und wo es noch – wie lange noch? – Verlage gibt, die auf Niveau setzen und dafür ihre Kriterien haben, ist es in der bildenden Kunst das System, das bis ins Mark verrottet ist, und oft finden die begabtesten und glaubwürdigsten Künstler nicht den Weg zum Publikum, weil sie unbestechlich sind oder schlicht unfähig, in dieser verlogenen Gemengelage, wo über den künstlerischen Erfolg und Misserfolg entscheiden wird, zu bestehen.
Nur wenige Straßen von der Royal Academy entfernt,am Trafalgar Square, in dem modernen Flügel der National Gallery, gibt es eine kleine Ausstellung, deren Besuch obligatorisch sein sollte für junge Menschen, die sich heute aufmachen, zu malen oder zu bildhauern, zu komponieren, zu schreiben oder zu filmen. Sie heißt Seurat und die Badenden und ist dem Gemälde Eine Badestelle bei Asnières von 1883/84 gewidmet, einem der beiden berühmtesten, die der Künstler geschaffen hat (das andere ist Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte ) . Auch wenn er zwei Jahre seines Lebens auf dieses außerordentliche Tableau verwandte, Jahre, in denen er zahllose Skizzen und Entwürfe des Ensembles und von Details des Bildes anfertigte, führt die Ausstellung doch anschaulich vor Augen, dass Seurats ganzes junges Leben eine langsame, zähe, schlaflose, geradezu besessene Vorbereitung war, um jene formale Perfektion zu erreichen, die die beiden Meisterwerke prägt.
Auf dem Gemälde Eine Badestelle bei Asnières erstaunt uns diese Perfektion – und bedrückt uns gleichsam – ob der Ruhe der Figuren, die sich sonnen, im Fluss baden oder die Landschaft betrachten, unter einem Licht, das die ferne Brücke, die Lokomotive darauf und die Schornsteine im Hintergrund zu einer flirrenden Luftspiegelung aufzulösen scheint. Diese Gelassenheit, diese Balance, diese tiefe Harmonie zwischen Mensch und Wasser, Wolke und Segelboot, Kleidung und Ruder, sie sind, jawohl, eine Demonstration vollkommener Beherrschung des Werkzeugs, der Strichführung und Farbgebung, wie es nur durch Anstrengung zu erlangen ist; und zugleich verweist alles auf einen höchsten, edelsten Begriff von der Kunst des Malens als sich selbst genügender Quelle der Lust und Verwirklichungdes Geistes, einer Kunst, die in ihrem eigenen Tun die schönste Belohnung findet und sich in ihrer Ausübung rechtfertigt und preist. Als Seurat das Gemälde beendete, war er erst vierundzwanzig, in einem Alter also wie diese schrillen jungen Künstler der Ausstellung Sensation der Royal Academy. Er sollte nur sechs weitere Jahre leben, aber sein Werk, so gering sein Umfang auch sein mag, ist ein künstlerisches Leuchtfeuer des neunzehnten Jahrhunderts. Und was wir daran bewundern, ist nicht allein sein technisches Können, sein akkurates Handwerk, das sich darin zeigt. Es ist vor allem, dies gewissermaßen stützend und potenzierend, eine Haltung, ein Ethos, eine Art, sich mit seinem Talent einem Ideal zu verschreiben, und ohne all das ist es für einen Künstler unmöglich, mit den Traditionen zu brechen und sie zugleich zu bereichern, wie Seurat es tat. Diese Art, sich »zum Künstler zu erwählen«, scheint unter den jungen Ungeduldigen und Zynikern für immer verlorengegangen zu sein, denn sie lassen sich keine Gelegenheit entgehen, nach den Sternen zu greifen, und sei es, indem sie auf einen Haufen Dickhäuterscheiße steigen.
El País , Madrid, 21. September 1997
II
Kleiner Diskurs über die Kultur
Im Laufe der Geschichte wurde der Begriff Kultur unterschiedlich gedeutet und verstanden. Jahrhundertelang war es eine Vorstellung, die sich nicht trennen ließ von Religion und theologischer Erkenntnis. In Griechenland war sie geprägt von der Philosophie und in Rom vom Recht, in der Renaissance vor allem von der Literatur und
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