Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
verseuchen könnten. Es ist eine wissenschaftliche und technische Großtat und zugleich ein flagrantes Zeichen von Barbarei, etwas zutiefst Kulturfeindliches also, wenn Kultur, wie T. S. Eliot glaubte, alles ist, »was das Leben lebenswert macht«.
Kultur ist, besser gesagt: war einmal ein gemeinsamer Nenner, der die Verständigung zwischen ganz unterschiedlichen Menschen gewährleistete, Menschen, die der Fortschritt in die Spezialisierung zwang, womit sie sich immer weiter voneinander entfernten und isolierten. Niemand kann in allem alles wissen – das war früher nicht anders als heute –, aber dem gebildeten Menschen diente die Kultur zumindest dazu, sich sowohl auf diesem Gebiet wie auch auf dem der ästhetischen Werte Hierarchien und Vorlieben zurechtzulegen. Heute sind die Hierarchien obsolet geworden, alles wird über einen Leisten geschlagen, und wir leben mit dem Schwindel, dass alles gleichwertig sei, so dass kein Mensch mehr mit einem Minimum an Objektivität unterscheiden kann, was in der Kunst schön ist und was nicht. Selbst die Rede von Schönheit hat sich im Grunde erübrigt, denn allein der Begriff ist so diskreditiert wie die klassische Vorstellung von Kultur.
In seinem Ressort sieht der Spezialist weit und schreitet weit aus, aber er weiß nicht, was links und rechts geschieht, er hält sich nicht auf mit einer Betrachtung der Schäden, die er mit seinen Errungenschaften in anderen Bereichen womöglich anrichtet. Ein solch eindimensionaler Mensch kann ein großer Spezialist und ein großer Ungebildeter zugleich sein, denn seine Kenntnisse verbinden ihn nicht mit den anderen, sie verschließen ihn in seinem Fach. Die Spezialisierung, wie wir sie seit den Anfängen der Zivilisation kennen, nahm mit den Erkenntnissen einen immer größeren Raum ein, und was die allgemeine Verständigung aufrechterhielt, gleichsam der Kitt des gesellschaftlichen Gefüges, waren die Eliten, gebildete Minderheiten, die nicht nur Brücken schlugen und einen Austausch ermöglichten zwischen den verschiedenen Provinzen des Wissens und derKünste, sondern auch Einfluss ausübten, einen religiösen oder weltlichen, immer aber mit moralischem Inhalt beladenen, damit dieser geistige und künstlerische Fortschritt sich nicht gänzlich einer gewissen Zweckbestimmtheit entzieht und den Menschen stets im Auge behält; Fortschritt soll, mit anderen Worten, nicht nur bessere Chancen und bessere materielle Lebensbedingungen gewährleisten, sondern eine moralische Bereicherung aller sein, mit einem Weniger an Gewalt, an Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Hunger, Krankheit und Ignoranz.
In seinen Beiträgen zum Begriff der Kultur legt T. S. Eliot Wert auf die Feststellung, dass Kultur zu unterscheiden sei von Kulturwissen – womit er mehr zu uns Heutigen zu sprechen schien als zu seinen Zeitgenossen, denn damals war das Problem noch lange nicht so virulent. Kultur geht bloßer Erkenntnis voraus, stützt sie, gibt ihr eine Orientierung und verleiht ihr eine Funktionalität, so etwas wie einen moralischen Vorsatz. Als gläubiger Mensch fand Eliot in den christlichen Werten jene Stütze des Wissens und des menschlichen Verhaltens, die er Kultur nannte. Aber ich glaube nicht, dass ein religiöser Glaube der einzig mögliche Halt ist, damit Erkenntnis nicht irregeht und in der Selbstzerstörung endet wie dieses Wissen, das die atomaren Pulvermagazine bestückt und mit Giften aller Art die Luft, den Boden und das Wasser verseucht. Seit dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert waren es eine Moral und eine weltliche Philosophie, die für weite Teile der westlichen Welt diese Funktion erfüllten, auch wenn für viele, vielleicht die meisten Menschen die Transzendenz ein Anliegen oder lebensnotweniges Bedürfnis ist, vondem sie nicht Abstand nehmen können, ohne in Anomie oder Verzweiflung zu verfallen.
Halten wir uns vor Augen: Hierarchien in einem breiten Spektrum des Wissens, aus dem sich die Erkenntnis speist; eine alles umgreifende Moral, die nach Freiheit verlangt und der Menschheit in ihrer ganzen Vielfalt erlaubt, sich auszudrücken, darin jedoch unerschütterlich in ihrer Ablehnung all dessen, was den Grundbegriff des Menschlichen entwertet und herabsetzt und das Überleben der Art bedroht; eine Elite, gegründet nicht auf Geburt oder ökonomisch-politische Macht, sondern ausgewiesen durch Kompetenz und Leistung und mit moralischer Autorität, um sowohl im Raum der Kunst wie auch der Wissenschaft und Technik eine Art Wertekatalog
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