Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
vor Augen hatte, als sie die Ausstellung Sensation organisierte, mit Werken junger britischer Künstler aus der Sammlung des Werbeprofis Charles Saatchi? Wenn dem so ist, bravo, voller Erfolg. Ganz sicher werden die Leute Schlange stehen, um sich, und sei es mit zugehaltener Nase, die Werke des jungen Chris Ofili anzuschauen, neunundzwanzig Jahre alt, Schüler des Royal College of Art und, so ein Kritiker, Star seiner Generation, der getrockneten Elefantendung in seine Werke integriert. Doch nicht ob dieser Kuriosität schaffte es Chris Ofili auf die Titelseiten der Boulevardblätter, sondern wegen seines blasphemischen Bilds The Holy Virgin Mary ,auf dem die Muttergottes umgeben ist von Ausschnitten aus Pornoheften.
Gleichwohl provozierte nicht dieses Bild die meisten Kommentare. Der Lorbeer gebührt dem Porträt einer berühmten Kindermörderin, Myra Hindley, vom smarten Marcus Harvey aus Abdrücken von Kinderhänden komponiert. Eine weitere Originalität der Show ist eine Arbeit des Duos Jake und Dinos Chapman. Ihre Skulptur nennt sich Zygotic Acceleration und zeigt – wie der Titel schon sagt? – miteinander verwachsene androgyne Kinder, aus deren Gesichtern Geschlechtsteile wachsen; der schimpfliche Vorwurf der Pädophilie gegen die inspirierten Urheber ließ, wie auch anders, nicht auf sich warten. Sollte die Ausstellung tatsächlich repräsentativ sein für das, was die jungen Künstler in Großbritannien anregt und beschäftigt, muss man zu dem Schluss gelangen, dass die Obsession für das Genitale ganz oben auf der Prioritätenliste steht. Mat Collishaw etwa hat ein Bild verübt, Bullet Hole , das in einer riesigen Großaufnahme das Einschussloch einer Kugel an einem Kopf zeigt; doch was der Betrachter tatsächlich sieht, ist eine Vulva, eine Vagina. Und was soll man sagen zu dem kühnen Komponisten, der seine Glaskästen vollstopft mit menschlichen Knochen und anscheinend auch Überresten eines Fötus?
Bemerkenswert daran ist nicht, dass solche Erzeugnisse es bis in die erlauchtesten Ausstellungshallen schaffen, sondern dass es Leute gibt, die sich darüber noch wundern. Was mich selbst betrifft, fiel mir vor genau siebenunddreißig Jahren auf, dass etwas faul ist in der Kunstszene, als nämlich in Paris ein guter Freundvon mir, ein kubanischer Bildhauer, es nicht länger hinnehmen wollte, dass die Galerien seine großartigen Holzskulpturen verschmähten, an denen er, wie ich sehen konnte, von früh bis spät in seiner chambre de bonne arbeitete, und beschloss, der sicherste Weg zum Erfolg sei, Aufmerksamkeit zu erregen. Gesagt, getan: Er fertigte einige »Skulpturen« aus verfaulten Fleischstücken an und steckte sie, umschwirrt von Fliegen, in Vitrinen. Lautsprecher stellten sicher, dass das Summen der Fliegen im ganzen Raum wie eine fürchterliche Drohung erscholl. Er triumphierte tatsächlich, denn selbst Jean-Marie Drot, im französischen Funk und Fernsehen ein Star, machte eine Sendung über ihn.
Am erschreckendsten an der Entwicklung in der modernen Kunst ist aber die Tatsache, dass es mittlerweile überhaupt kein objektives Kriterium mehr gibt, mit dem man ein Kunstwerk hoch- oder geringschätzen könnte, es lässt sich in keine Hierarchie mehr einordnen, ein Verfahren, das mit der kubistischen Revolution zu schwinden begann und mit der ungegenständlichen Kunst vollends dahinging. Heutzutage kann alles und nichts Kunst sein, ganz nach Laune des Betrachters, der im Untergang aller ästhetischen Maßstäbe zum Richter oder Schiedsrichter erhoben wird, ein Stand, der früher nur wenigen Kritikern vorbehalten war. Das einzige mehr oder weniger allgemeingültige Kriterium in der heutigen Kunst hat mit Künstlerischem nichts mehr zu tun; es wird allein vom Markt bestimmt, einem Markt, den die Mafias der Galeristen und Kunstmakler kontrollieren und manipulieren und der weder Geschmack noch ästhetisches Empfinden erfordert, nur Werbung, PR-Aktionen und in vielen Fällen schlicht Überrumpelung.
Vor etwa einem Monat besuchte ich zum vierten Mal in meinem Leben (ganz sicher auch zum letzten Mal) die Biennale in Venedig. Ich verbrachte mehrere Stunden auf dem Gelände, und als ich herauskam, war mir klar, dass ich keinem einzigen dieser Werke, ob Bilder, Skulpturen oder Objekte, die ich in den vielleicht zwanzig durchstreiften Pavillons sah, die Türen meines Zuhauses geöffnet hätte. Die Veranstaltung war eine so langweilige und trostlose Farce wie die Ausstellung der Royal Academy, bloß mal hundert
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