Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
den schönen Künsten. In jüngeren Epochen wie im Zeitalter der Aufklärung waren es die Wissenschaft und die großen wissenschaftlichen Entdeckungen, die der Idee von Kultur ihre Richtung gaben. Aber trotz aller Unterschiede und bis in unsere Zeit bedeutete sie immer eine Summe von Aspekten, ohne die, und das war breiter gesellschaftlicher Konsens, Kultur nicht denkbar war; wozu gehörte, dass man sich auf ein gemeinsames Erbe von Ideen, Werten und Kunstwerken stützte, von historischen, religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen, und dass man die Erkundung neuer künstlerischer Formen ebenso förderte wie die Forschung auf allen übrigen Gebieten des Wissens.
Kultur hat immer soziale Abstufungen gekannt zwischen denen, die sie pflegten, mit ihren Beiträgen bereicherten und weiterentwickelten, und denen, die sich von ihr fernhielten, sie ignorierten oder geringschätzten oder die aus gesellschaftlichen und ökonomischen Gründen von ihr ausgeschlossen blieben. Zu allen Zeiten gab es Gebildete und Ungebildete und zwischen denbeiden Polen Menschen, die leidlich gebildet waren oder leidlich ungebildet, und diese Zuordnungen waren recht klar.
Heute ist das alles anders. Der Kulturbegriff wird derart weit gefasst, dass die Kultur sich verflüchtigt hat. Sie ist zu einem ungreifbaren Phantom geworden, einer bloßen Metapher. Denn kein Mensch ist mehr gebildet, wenn alle es zu sein glauben oder wenn der Inhalt dessen, was wir Kultur nennen, so verwässert ist, dass alle mit gutem Recht davon ausgehen können, dass sie gebildet sind.
In Gang gesetzt wurde dieser Prozess von den Anthropologen. In der besten aller Absichten, voller Empathie und aus Respekt vor ihrem Untersuchungsgegenstand – den primitiven Gesellschaften – bestimmten sie, dass Kultur die Summe der Kenntnisse und religiösen Anschauungen, Sprachen, Sitten und Gebräuche, Kleider, Verwandtschaftssysteme und letztlich von allem sei, was ein Volk sagt, tut, fürchtet oder verehrt. Mit dieser Definition beließ man es jedoch nicht bei einer Methode, um das Kennzeichnende einer Ansammlung von Menschen im Verhältnis zu anderen Gruppen zu erforschen. Zuallererst galt es, dem vorurteilsbeladenen und rassistischen Ethnozentrismus abzuschwören, dessen sich der Westen anzuklagen nicht müde wird. Die Absicht hätte edler nicht sein können, aber der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. Denn zu glauben, dass alle Kulturen Achtung verdienen, da es in allen positive Beiträge zur menschlichen Zivilisation gibt, ist eine Sache; eine ganz andere dagegen, zu glauben, dass alle, bloß weil es sie gibt, gleichwertig seien. So unglaublich es klingt, aber genau Letzteres ist passiert, und zwar aufgrund eines kolossalen Vorurteils – erwachsen aus dem Wunsch, ein für alle Mal sämtliche kulturellen Vorurteile aus der Welt zu schaffen. Die Political Correctness hat uns irgendwann eingebläut, dass es anmaßend, borniert, kolonialistisch und eben gar rassistisch sei, von höheren und niederen Kulturen zu sprechen und selbst von modernen und primitiven. Nach dieser erzengelhaften Auffassung sind alle Kulturen, auf ihre Weise und in je ihrer Welt, gleich, gleichwertige Manifestationen der wunderbaren menschlichen Vielfalt.
Hatten Ethnologen und Anthropologen mit einer solchen horizontalen Gleichsetzung der Kulturen die klassische Bedeutung des Wortes bis zur Unkenntlichkeit verdünnt, setzten die Soziologen – besser gesagt, die Soziologen, die meinen, Literaturwissenschaft betreiben zu müssen – ihrerseits eine semantische Revolution ins Werk, indem sie der Vorstellung von Kultur die Unkultur als integralen Bestandteil eingliederten, camoufliert mit der Bezeichnung Populärkultur, eine weniger anspruchsvolle, weniger verfeinerte und artifizielle Form als die andere, dafür frecher, freier, unverfälschter, kritischer und repräsentativer. Ich möchte gleich sagen, dass im Zuge dieser allmählichen Aushöhlung der traditionellen Vorstellung von Kultur so anregende Bücher entstanden sind wie das von Michail Bachtin über François Rabelais und die Volkskultur im Mittelalter und in der Renaissance 9 , worin er mit feinsinnigen Überlegungen und deftigen Beispielen untersucht, was er »Volkskultur« nennt, für den russischen Literaturwissenschaftler eine Art Kontrapunkt zur offiziellen und aristokratischen Kultur. Letztere keimt und konserviert sich in den Salons, Palästen, Klöstern und Bibliotheken, während die
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