Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
volkstümliche auf der Straße gedeiht und sich fortzeugt, in der Schenke, beim Fest, im Karneval. Die Volkskultur verspottet die offizielle mit Repliken, die enthüllen und übersteigern, was diese verbirgt und als das »leibliche Untenrum« tadelt, den Sex, die Ausscheidungen, das Derbe, und setzt den lüstern-rauflustigen »schlechten Geschmack« dem vermeintlich »guten Geschmack« der herrschenden Klassen entgegen.
Man darf die von Bachtin und Theoretikern soziologischer Abkunft vorgenommene Einteilung – offizielle Kultur versus Volkskultur – nicht verwechseln mit jener, die in der angelsächsischen Welt seit langem zwischen highbrow culture und lowbrow culture unterscheidet, der hochgeistigen Kultur und der Kultur der bescheideneren Gemüter. Hier befinden wir uns immer noch innerhalb der klassischen Bedeutung von Kultur, und was das eine vom anderen trennt, ist der Grad an Einfachheit oder Schwierigkeit, den das kulturelle Faktum dem Leser, Hörer, Zuschauer und einfachen Verehrer bietet. Ein Dichter wie T. S. Eliot und ein Romanschriftsteller wie James Joyce sind highbrow , die Erzählungen und Romane von Ernest Hemingway oder die Gedichte von Walt Whitman lowbrow , da durchschnittlichen Lesern zugänglich. In beiden Fällen befinden wir uns aber immer noch im Bereich der puren Literatur, ohne weitere Zuschreibung. Bachtin und seine Anhänger dagegen unternahmen (bewusst oder unbewusst) etwas Radikaleres: Sie schleiften die Grenzen zwischen Kulturund Unkultur und verliehen dem Unkultivierten eine besondere Würde, denn was es hier an Unvermögen, Geschmacklosem und Nachlässigem auch immer gebe, werde, so behaupteten sie, von seiner Vitalität, seinem Humor und seiner ungezwungenen und authentischen Art wettgemacht, und damit stehe es für die Erfahrungen der allermeisten Menschen.
Auch aus Angst, in politische Unkorrektheit zu verfallen, ist so alles aus unserem Vokabular verschwunden, was Kultur und Unkultur, Gebildete und Ungebildete voneinander scheidet. Heute ist niemand mehr kulturlos. Man muss nur eine Zeitung oder Zeitschrift aufschlagen und begegnet zahllosen Hinweisen auf die unendlichen Äußerungsformen dieser universalen Kultur, als deren Träger wir uns sämtlich fühlen dürfen, ob »pädophile Kultur«, »Marihuana-Kultur«, »Punk-Kultur«, »Nazi-Kultur« oder sonst was. Irgendwie sind wir jetzt alle Kultur, auch wenn wir noch nie ein Buch gelesen, noch nie eine Ausstellung oder ein Konzert besucht und uns auch keine humanistischen, wissenschaftlichen und technischen Grundkenntnisse angeeignet haben.
Wir wollten mit den Eliten aufräumen, denn das Privilegierte, Abwertende, Diskriminierende, das uns mit unseren egalitären Idealen allein schon aus diesem Begriff entgegenhallte, war uns moralisch zuwider, und im Laufe der Zeit haben wir auf verschiedene Weise diese exklusive Bande von Schulmeistern, die sich für etwas Besseres hielten und stolz Wissen, Werte und Geschmack für sich reklamierten, bekämpft und aufgerieben. Aber was wir erreicht haben, war ein Pyrrhussieg, ein Heilmittel, das schlimmer ist als die Krankheit: zu leben in einer verwirrten Welt, in der paradoxerweise,weil niemand mehr weiß, was sie eigentlich bedeutet, Kultur nun alles ist und nichts.
Aber, wird man mir entgegenhalten, nie zuvor hat es eine solche Fülle an wissenschaftlichen Durchbrüchen und technologischen Neuerungen gegeben, noch nie wurden so viele Bücher verlegt, so viele Museen eröffnet und so schwindelerregende Summen für klassische und moderne Kunst gezahlt. Wie kann man in einer Epoche, in der von Menschen konstruierte Raumschiffe zu den Sternen fahren und der Prozentsatz der Analphabeten der niedrigste aller Zeiten ist, von einer kulturlosen Welt sprechen? Dieser Fortschritt ist unübersehbar, gewiss, aber er ist nicht das Werk von gebildeten Menschen, sondern von Spezialisten. Und Kultur und Spezialisierung liegen so weit auseinander wie der Cromagnonmensch und die neurasthenischen Genießer bei Marcel Proust. Und dass es heute sehr viel mehr des Lesens und Schreibens Kundige gibt als in der Vergangenheit, ist eine quantitative Angelegenheit, und Kultur hat mit Quantität wenig zu tun. Wir sprechen von unterschiedlichen Dingen. Der außerordentlichen Spezialisierung in den Wissenschaften ist es ohne Zweifel geschuldet, dass wir heute ein Waffenarsenal von so massiver Zerstörungskraft versammelt haben, dass wir unseren Planeten mehrmals in die Luft jagen und noch das Weltall drumrum
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