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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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aufzustellen – all das war die Kultur in den aufgeklärtesten Milieus und Gesellschaften, welche die Geschichte gekannt hat, und das sollte sie auch wieder sein, wenn wir nicht ziellos, blind, wie Automaten unserer eigenen Auflösung entgegenschreiten wollen. Nur so würde für die meisten von uns, die wir dem sehnlichen, immer unerreichbaren Wunsch nach einer glücklichen Welt hinterherlaufen, das Leben jeden Tag lebenswerter.
    Es wäre verfehlt, wollte man der Wissenschaft und der Kunst in diesem Prozess identische Funktionen zuschreiben. Eben die Tatsache, dass man vergessen hat, sie voneinander zu unterscheiden, hat zu der heutigen kulturellen Konfusion beigetragen. Die Wissenschaft schreitet wie die Technik voran, indem sie das Veraltete und Überholte zerstört, für sie ist die Vergangenheit ein Friedhof, eine Welt toter, durch die neuen Entdeckungen und Erfindungen überwundener Dinge. Die Kunst erneuert sich, schreitet aber nicht fort, sie zerstört ihreVergangenheit nicht, sie baut auf ihr auf, speist sich aus ihr und speist manchmal auch diese, so dass, wie groß die Distanzen auch sein mögen, ein Velázquez so lebendig ist wie Picasso und Cervantes so gegenwärtig wie Borges oder Faulkner.
    Die Vorstellung von Spezialisierung und Fortschritt, wie sie der Wissenschaft eingeschrieben sind, verliert in der Kunst alle Gültigkeit, was natürlich nicht heißen soll, dass Literatur, Malerei oder Musik sich nicht veränderten und entwickelten. Aber man kann hier nicht wie von der Chemie und der Alchemie sagen, dass das eine das andere ablöst und überwindet. Das künstlerische Werk, das einen gewissen Grad an Vollkommenheit erreicht, stirbt nicht mit der Zeit: es lebt weiter, bereichert die jeweils neuen Generationen und entwickelt sich mit ihnen. Ebendeshalb waren Kunst und Literatur bisher der gemeinsame Nenner der Kultur, der Raum, in dem trotz unterschiedlicher Sprachen, Traditionen, Religionen und Epochen eine Verständigung zwischen den Menschen möglich war, denn wer sich heute von Shakespeare ergreifen lässt, bei Molière lacht und von Rembrandt oder Mozart überwältigt wird, tritt ein in einen Dialog mit jenen, die sie in der Vergangenheit lasen, hörten und bewunderten.
    Dieses Gemeinsame, das eine Spezialisierung nie kannte und immer allen zugänglich war, hat Zeiten äußerster Komplexität, Abstraktion und Hermetik erlebt, was das Verständnis mancher Werke so weit erschwerte, dass sie einer Elite vorbehalten blieben. Aber solche experimentellen oder avantgardistischen Werke haben, wenn sie tatsächlich Momente der menschlichen Wirklichkeit erschlossen und Formen von dauerhafterSchönheit schufen, am Ende immer ihre Leser, Zuhörer und Betrachter erzogen und sich auf diese Weise in das gemeinsame Erbe eingefügt. Kultur kann und muss auch Experiment sein, klar, solange ein Werk mit seinen neuen Techniken und Formen den Erfahrungshorizont erweitert und so die Geheimnisse des Lebens enthüllt oder uns mit einem ästhetischen Elan beseelt, der das Empfinden revolutioniert und uns eine subtilere und neuartige Sicht auf diesen bodenlosen Abgrund erlaubt, der die menschliche Natur ist.
    Kultur kann Experiment und Reflexion sein, Gedanke und Traum, Leidenschaft und Poesie, eine ständige und drängende Überprüfung aller Gewissheiten, Überzeugungen, Theorien und Anschauungen. Aber sie darf sich nicht vom wirklichen Leben entfernen, vom wahren Leben, vom gelebten Leben, denn das ist niemals das der Gemeinplätze, des Blendwerks, des Sophismus und des bloßen Zeitvertreibs, sie liefe sonst Gefahr, sich aufzulösen. Es mag pessimistisch klingen, aber mein Eindruck ist, dass wir, mit einer Unverantwortlichkeit, die so groß ist wie unser zwanghafter Hang zu Spaß und Unterhaltung, aus der Kultur eins dieser auf Sand gebauten Schlösser gemacht haben, die bei der leisesten Berührung zusammenfallen.

Vorgeschichte
    Prüfstein
Die Stunde der Scharlatane
    An jenem Tag, als der französische Philosoph im Institute of Contemporary Arts seinen Vortrag hielt, machte ich mich eine halbe Stunde früher auf den Weg, um noch einen Blick in die Buchhandlung des ICA zu werfen, die mir, so klein sie auch ist, immer vorbildlich erschien. Doch was für eine Überraschung, denn seit meinem letzten Besuch hatte dieses Wunderstübchen eine Sortimentsrevolution erlebt. Die altmodischen Abteilungen von früher – Literatur, Philosophie, Kunst, Kino, Kritik – waren postmodernen gewichen: Kulturtheorie, Klasse und Gender.

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