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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Ein Regal mit der Aufschrift »Das sexuelle Subjekt« gab mir eine gewisse Hoffnung, doch mit Erotik hatte es nichts zu tun, sondern mit Patristik in der Philologie oder machistischer Sprache.
    Lyrik, Roman und Theater waren aussortiert, von Schöpferischem zeugten einzig ein paar Drehbücher. Auf einem Ehrenplatz thronte ein Buch von Deleuze und Guattari über Nomadologie, dazu ein offenbar sehr bedeutendes von einer Gruppe Psychoanalytikern, Juristen und Soziologen zur Dekonstruktion des Rechts. Kein einziger der auffälligeren Titel (wie The Material Queer, Feminists Rethink the Self, Ideology und Cultural Identity oder The Lesbian Idol ) weckte meine Neugier,so dassich wieder ging, ohne etwas zu kaufen, was mir in einer Buchhandlung nur selten passiert.
    Jean Baudrillards Vortrag hörte ich mir an, weil der französische Soziologe und Philosoph, einer der Helden der Postmoderne, auch seinen Teil Verantwortung trägt für das, was heute mit dem kulturellen Leben passiert (wenn angesichts von Phänomenen, wie in der Buchhandlung des Londoner ICA zu besichtigen, von kulturell überhaupt noch die Rede sein kann). Und weil ich ihn sehen wollte nach all den Jahren. Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger besuchten wir beide an der Sorbonne die Vorlesungen von Lucien Goldmann und Roland Barthes und unterstützten den algerischen FLN in dem Netzwerk, das der Philosoph Francis Jeanson in Paris gegründet hatte. Damals war allen klar, dass Jean Baudrillard als brillanter Intellektueller Karriere machen würde.
    Er war sehr intelligent, und seine Erläuterungen waren von einer seltenen Unbefangenheit. Damals schien er ein sehr ernsthafter Mensch zu sein, und es hätte ihn nicht gekränkt, wenn man ihn als modernen Humanisten beschrieben hätte. Ich habe noch im Ohr, wie er einmal in einem Bistro in Saint-Michel in aller Schärfe und mit Humor Foucaults These vom Verschwinden des Menschen auseinandernahm, die dieser in seinem gerade erschienenen Buch Die Ordnung der Dinge vertrat. Baudrillard hatte einen außerordentlichen literarischen Geschmack, und er war einer der Ersten in Frankreich, die auf das Genie Italo Calvinos hinwiesen, in einem glänzenden Aufsatz, den Sartre in Les Temps Modernes veröffentlichte. Ende der sechziger Jahre schrieb er dann die beiden dichten, anregenden, so wortreichenwie spitzfindigen Bücher, die sein Ansehen begründen sollten, das eine über Das System der Dinge und ein zweites über die Konsumgesellschaft. Seither, und während seine Gedanken um die Welt gingen und allenthalben Einfluss nahmen, vor allem im angelsächsischen Raum – der Beweis: der brechend volle Saal des ICA und die Hunderte von Menschen, die keine Eintrittskarte mehr bekamen –, verwandte er sein Talent, und es scheint geradezu schicksalhaft zu sein für den Werdegang der besten französischen Denker unserer Tage, immer mehr auf ein ehrgeiziges Unterfangen: das Existierende zu zertrümmern und durch ein geschwätziges Irreales zu ersetzen.
    Sein Vortrag – beginnend mit einem Verweis auf Jurassic Park – bestätigte mir dies überdeutlich. Seine Landsleute, die ihm bei dieser Treibjagd vorangingen, waren da nicht ganz so forsch bei der Hand. Nach Foucault ist der Mensch verschwunden, aber dieses Verschwinden ist zumindest existent und bestimmt die Wirklichkeit mit ihrer unbeständigen Leere. Roland Barthes gesteht wirkliche Substanz nur dem Stil zu, eine Modulation, die jedes beseelte Leben dem Fluss der Wörter mitzugeben vermag, über dem das Sein wie ein Irrlicht aufscheint und vergeht. Für Derrida ist alles in Texte oder Diskurse aufgelöst, in eine unabschließbare Kette von Verweisen und Modifikationen, ohne je an diesen fernen und blassen Schatten des Wortes zu rühren, welcher die entbehrliche menschliche Erfahrung ist.
    Die Kunststücke des Jean Baudrillard standen dem in nichts nach. Die wirkliche Wirklichkeit gibt es nicht mehr, sie wurde abgelöst von der virtuellen Wirklichkeit, wie sie die Bilder der Werbung und die audiovisuellenMedien schaffen. Zwar gibt es etwas, was wir unter der Bezeichnung »Information« kennen, aber dieser Stoff erfüllt in Wahrheit die genau entgegengesetzte Funktion, denn er informiert uns nicht über die Geschehnisse um uns herum, sondern fälscht die wirkliche Welt der Ereignisse und die objektiven Handlungen, macht sie wertlos: es sind die immergleichen Versionen, die, selektiert und zubereitet von den Profigauklern in den Massenmedien, über die Fernsehbildschirme

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