Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
flimmern und nun an die Stelle dessen treten, was man früher als historische Wirklichkeit kannte, als objektives Wissen von der Entwicklung der Gesellschaft.
Die Geschehnisse der wirklichen Welt können nicht mehr objektiv dargestellt werden, sie sind von Beginn an in ihrer Wahrheit und ontologischen Beschaffenheit ausgehöhlt von einem alles zersetzenden Virus: ihrer Projektion in den manipulierten und gefälschten Bildern der virtuellen Wirklichkeit, welche die einzigen noch möglichen und begreiflichen sind für eine von den Fiktionen der Medien gezähmte Menschheit, Fiktionen, in deren Bann wir geboren werden, leben und sterben (nicht mehr und nicht weniger als Spielbergs Dinosaurier). Aber die im Fernsehen gesendeten »Nachrichten« schaffen nicht nur die Geschichte ab, sie heben auch die Zeit auf, denn sie machen jeden kritischen Blick auf das Geschehen zunichte, finden simultan mit den Ereignissen statt, über die sie angeblich informieren, und dauern nicht länger als der flüchtige Moment ihrer Besprechung, ehe sie verschwinden, hinweggewischt von anderen, die ihrerseits von neueren vernichtet werden, ein schwindelerregender Prozess der Entstellung des Existierenden, der schlicht und ergreifend zu seiner Verflüchtigung und Ablösung durch die Wahrheit der Medienfiktion geführt hat, der einzigen wirklichen Wirklichkeit unserer Zeit, für Baudrillard das Zeitalter »der Simulakren«.
Dass wir in einer Zeit der Abbilder leben, der Repräsentationen, die uns das Verstehen der realen Welt erschweren, scheint mir eine unumstößliche Wahrheit zu sein. Aber liegt es nicht auf der Hand, dass niemand, nicht einmal die Mediengaukler, so sehr dazu beigetragen hat, unser Verständnis dessen, was wirklich in der Welt geschieht, zu trüben wie manche Theoretiker, die sich, genau wie die Gelehrten in einer von Borges’ fantastischen Erzählungen, bestrebt zeigen, das spekulative Spiel und die Träume der Fiktion im Leben zu verankern?
In einem Essay, in dem er erklärte, dass der Golfkrieg nicht stattgefunden habe – denn was Saddam Hussein, Kuwait und die alliierten Truppen dort getrieben hätten, sei eine bloße TV-Farce gewesen –, behauptete Jean Baudrillard: »Der Skandal besteht heute nicht im Verstoß gegen die moralischen Werte, sondern im Verstoß gegen das Realitätsprinzip.« Diesen Satz unterschreibe ich sofort. Zugleich lese ich darin eine deutliche, wenn auch unfreiwillige Selbstkritik, schließlich verwandte Baudrillard seit Jahren all seine dialektische Gewitztheit und Intelligenz darauf, uns zu beweisen, dass die Entwicklung der audiovisuellen Medien und die Revolution der Kommunikation den Menschen ihre Fähigkeit genommen haben, zwischen Wahrheit und Lüge, Realität und Fiktion zu unterscheiden, womit wir, die im Labyrinth der Medien verlorenen Zweibeiner aus Fleisch und Blut, zu bloßen automatischen Gespenstern werden, zuBaukastenteilen ohne jede Freiheit und jedes Wissen um die Welt, verurteilt zum Erlöschen, ohne dass wir überhaupt gelebt hätten.
Nach seinem Vortrag bin ich nicht zu ihm hingegangen, um ihn zu begrüßen und an die gemeinsamen Jugendzeiten zu erinnern, als wir uns von Ideen und Büchern begeistern ließen und er noch glaubte, dass es uns gibt.
El País , Madrid, 24. August 1997
III
Verbieten verboten
Es ist schon ein paar Jahre her, als ich in Paris im französischen Fernsehen eine Reportage sah, die mir im Gedächtnis haften geblieben ist und deren Bilder immer wieder mit einem Peitschenknall aktualisiert werden, vor allem wenn es um das größte kulturelle Problem unserer Zeit geht: die Erziehung.
Der Beitrag beschrieb die Probleme einer Sekundarschule in den Banlieues von Paris, einem dieser Vororte, wo verarmte französische Familien mit Einwanderern aus Schwarzafrika, Lateinamerika und dem Maghreb Tür an Tür leben. Die staatliche Schule, deren Schüler beiderlei Geschlechts mit ihrer unterschiedlichen Herkunft, ihren Sprachen, Gebräuchen und Religionen einen bunten Regenbogen bilden, war ein Schauplatz der Gewalt gewesen: verprügelte Lehrer, Vergewaltigungen auf Toiletten, Zusammenstöße zwischen Banden bis hin zu Schießereien. Ich weiß nicht, ob bei alldem jemand zu Tode gekommen ist, aber es gab Verletzte, und bei der Durchsuchung des Gebäudes hatte die Polizei jede Menge Waffen, Alkohol und Drogen sichergestellt.
Der Film wollte keine Panik schüren, sondern beruhigen, wollte zeigen, dass das Schlimmste vorbei war und die Wogen sich glätteten,
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