Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
weshalb die Kultur der Freiheit es in den islamischen Ländern so schwer hat, Wurzeln zu schlagen, Ländern, in denen der Staat nicht als Gegengewicht zum Glauben begriffen wird, sondern als sein Diener und oftmals sein flammendes Schwert. In einer Gesellschaft, in der die Scharia Gesetz sein soll, verschwinden die Rechte des Einzelnen und die Freiheit genauso wie in den Verliesen der Inquisition.
Dass in Frankreich Mädchen von ihren Familien und Gemeinden mit dem Kopftuch in die öffentlichen Schulen geschickt werden, bedeutet mehr, als es auf den ersten Blick scheint, denn sie sind die Vorhut eines Feldzugs, den die militantesten Gruppierungen des islamischen Fundamentalismus begonnen haben, um einen Brückenkopf nicht nur im Schulsystem zu erobern, sondern in allen Einrichtungen der französischen Zivilgesellschaft. Sie wollen erreichen, dass man ihr Recht auf Verschiedenheit anerkennt, beanspruchen gewissermaßen im öffentlichen Raum einen exterritorialen Status, der im Einklang sein will mit dem, was diese Gruppierungen, gestützt auf ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken, als ihre kulturelle Identität ausgeben. Eben dieser kulturelle und politische Prozess – übertönt von der freundlichen Rede von Kommunitarismus oder Multikulturalismus, womit seine Fürsprecher ihn verteidigen – ist eine der gewaltigsten Herausforderungen, der die Kultur der Freiheit heute gegenübersteht. Und hinter den scheinbar anekdotischen Geplänkeln und Zusammenstößen zwischen Befürwortern und Gegnern eines Kopftuchverbots in den öffentlichen Schulen ist es meiner Meinung nach auch genau die Schlacht, die in Frankreich längst begonnen hat.
Auf französischem Staatsgebiet wohnen mindestens drei Millionen Muslime (manche sagen, sehr viel mehr, wenn man die illegal dort lebenden hinzuzählt). Unter ihnen gibt es natürlich moderne, eindeutig demokratisch ausgerichtete Gruppen wie jene, die der Rektor der Großen Moschee von Paris vertritt, Dalil Boubakeur, mit dem ich vor ein paar Monaten bei einer von der Gulbenkian-Stiftung organisierten Konferenz in Lissabon zusammentraf und dessen tolerante Einstellung, umfassende Bildung und feine Art mich beeindruckten. Doch leider wurde diese moderne und offene Strömung bei den jüngsten Wahlen zum Französischen Rat der Muslime einschließlich ihrer Regionalräte von den radikalen, dem militantesten Fundamentalismus nahestehenden Gruppen geschlagen, versammelt in der Union der Islamischen Organisationen in Frankreich (UOIF), einer der Vereinigungen, die am meisten dafür gekämpft haben, dass den muslimischen Mädchen das Recht zugestanden wird, im Unterricht das Kopftuch zu tragen – aus »Achtung vor ihrer Identität und Kultur«. Denkt man das Argument weiter, nimmt es kein Ende. Anders gesagt, akzeptiert man es, werden Präzedenzfälle geschaffen, die dazu führen, dass man irgendwann auch solche Praktiken akzeptieren müsste, die für die je eigene Kultur so fiktiv »wesenhaft« sind wie dievon den Eltern arrangierten Ehen der jungen Mädchen oder Polygamie, wenn nicht gar die Beschneidung der Frau. Dergleichen Obskurantismus kommt im Gewand des Fortschritts daher und macht mit Worten mächtig Wind: Mit welchem Recht will der kolonialistische Ethnozentrismus der Franzosen alten Schlags den neu hinzugekommenen Franzosen muslimischen Glaubens Sitten und Verhaltensweisen aufzwingen, die ihrer Tradition, ihrer Moral und ihrer Religion entgegenstehen? Geschönt mit pluralistischem Chichi, könnte das Mittelalter wieder auferstehen und eine anachronistische, unmenschliche und fanatische Enklave in ausgerechnet der Gesellschaft errichten, die als erste in der Welt die Menschenrechte erklärte. Eine solch abwegige und demagogische Argumentation muss energisch als das bezeichnet werden, was sie ist: eine ernste Gefahr für die Zukunft der Freiheit.
Die Einwanderung führt heute in vielen Ländern Europas zu einer übertriebenen Besorgnis, so auch in Frankreich, wo die Angst zu einem guten Teil die überraschend hohe Zahl an Wählerstimmen erklärt, die Le Pens rechtsextremer und fremdenfeindlicher Front National bei den letzten Präsidentschaftswahlen erzielte. Aber die Befürchtungen sind unberechtigt und absurd, denn Einwanderung ist unerlässlich, damit die Wirtschaft in den europäischen Ländern, in denen die Bevölkerungszahl abnimmt oder stagniert, weiter wachsen und der Lebensstandard zumindest gehalten werden kann. Zuwanderung muss deshalb verstanden werden nicht als
Weitere Kostenlose Bücher