Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
der Alb, der die Träume so vieler Europäer bewohnt, sondern als Vitalitätsschub, eine Zufuhr an Kreativität und Arbeitskraft, und dafür sollten die westlichen Länder ihre Tore sperrangelweit öffnen und alles tun, damit die Integration der Einwanderer gelingt. Natürlich ohne dass dabei die wunderbarste Errungenschaft Europas, und das ist die demokratische Kultur, beeinträchtigt würde, sie könnte sich ganz im Gegenteil mit der Aufnahme der neuen Bürger selbst erneuern und bereichern. Dabei liegt es auf der Hand, dass es die Neubürger sind, die sich an die freiheitlichen Institutionen anpassen müssen, nicht umgekehrt die Institutionen, denn sie würden sich aufgeben, arrangierten sie sich mit unvereinbaren Praktiken und Traditionen. In diesem Punkt kann und darf es kein Zugeständnis geben, schon gar nicht im Namen eines völlig missverstandenen Kommunitarismus oder Multikulturalismus. Alle Kulturen, Anschauungen und Traditionen müssen in einer offenen Gesellschaft ihren Platz haben, nur dürfen sie nicht mit den Menschenrechten und den Grundsätzen von Toleranz und Freiheit kollidieren, dem Kern der Demokratie. Die Menschenrechte und die öffentlichen und privaten Freiheiten, wie die demokratische Gesellschaft sie garantiert, bieten eine große Bandbreite an Möglichkeiten, ein Leben zu gestalten, und erlauben in ihrer Mitte das Nebeneinander aller Religionen und Glaubensrichtungen; nur werden einige von ihnen, so wie es auch mit dem Christentum geschah, von ihren dogmatischen Maximalpositionen abrücken müssen – eine Monopolstellung, der Ausschluss des Anderen und diskriminierende oder die Menschenrechte verletzende Praktiken –, um in einer offenen Gesellschaft das Bürgerrecht zu erlangen. Weshalb man Alain Finkielkraut, Élisabeth Badinter, Régis Debray, Jean-François Revel und wer immer in diesem Streit auf ihrer Seite steht, nurzustimmen kann: Das islamische Kopftuch muss in den öffentlichen Schulen Frankreichs verboten werden – im Namen der Freiheit.
El País , Madrid, Juni 2003
IV
Das Verschwinden der Erotik
Was mit der bildenden Kunst und der Literatur geschehen ist und ganz allgemein im intellektuellen Leben, ist auch der Sexualität nicht erspart geblieben. Die Kultur des Spektakels hat nicht nur das, was einst als Kultur galt, über Bord geworfen, sie zerstört auch eine ihrer erhabensten Äußerungsformen und Triumphe: die Erotik.
Ein Beispiel unter tausend.
Ende 2009 gab es in Spanien einen kleinen Medienrummel, als herauskam, dass die sozialistische Regionalregierung von Extremadura im Rahmen ihres Plans zur Sexualaufklärung an der Schule Selbstbefriedigungskurse für Jungen und Mädchen ab vierzehn Jahren veranstaltet hatte, eine Kampagne, die sie nicht ganz unpfiffig Die Lust in deiner Hand taufte.
Auf die Proteste mancher Bürger, ihre Steuergelder auf diese Art zu investieren, führten die Sprecher der Regierung an, die Sexualaufklärung der Kinder sei notwendig, um »unerwünschten Schwangerschaften« vorzubeugen, der Masturbationsunterricht diene dazu, »schlimmere Übel zu verhindern«. In dem Streit, den die Sache auslöste, erhielt die Regierung von Extremadura Glückwünsche und Unterstützung von der andalusischen, deren Ministerin für Gleichstellungsfragen und Soziales, Micaela Navarro, ankündigte, bald in Andalusien eine ähnliche Kampagne zu starten. Wohingegender Versuch einer dem Partido Popular nahestehenden und sinnigerweise Saubere Hände genannten Organisation, den Selbstbefriedigungskursen mit einem Gerichtsverfahren ein Ende zu setzen, krachend scheiterte, denn die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein und legte die Sache ad acta.
Dann also in die Hände gespuckt, Kinder dieser Welt! Wie viel Wasser ist die Flüsse hinabgeflossen auf diesem Planeten, der uns Menschen noch immer erträgt, seit die Salesianerpatres und die Ordensbrüder auf der La-Salle-Schule – Lehranstalten meiner Kindheit – uns mit dem Schreckgespenst kamen, die »Selbstbefleckung« führe zu Blindheit, Tuberkulose und Schwachsinn. Und sechs Jahrzehnte später Wichsunterricht in der Schule – meine Herren, das nennt man Fortschritt!
Tatsächlich?
Die Neugier martert mein Hirn: Ob es Noten gibt? Werden Prüfungen abgelegt? Sind die Kurse theoretischer oder auch praktischer Natur? Welche Glanzleistungen müssen die Schüler vollbringen, um Bestnoten zu erhalten, und was muss wie in die Hose gehen, um nicht zu bestehen? Hängt es vom Umfang der memorierten Kenntnisse ab
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