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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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oder von der Anzahl und Dauer der Orgasmen, die das taktile Geschick der Jungs und Mädels in welcher Geschwindigkeit zustande bringt? Das ist kein Scherz. Wenn man so verwegen ist, Kurse einzurichten, um Pubertierende in den Techniken der Selbstbefriedigung zu erleuchten, müssen dergleichen Fragen erlaubt sein.
    Moralisch habe ich nichts einzuwenden gegen Initiativen wie Die Lust in deiner Hand . Ich erkenne die guten Absichten der Regierung von Extremadura anund räume ein, dass sich durch solche Kampagnen die Zahl unerwünschter Schwangerschaften womöglich in der Tat verringern lässt. Meine Kritik betrifft nicht die praktische, sondern allein die sinnliche und sexuelle Seite. Ich fürchte, statt die Kinder vom alten Aberglauben, von Lügen und Vorurteilen zu befreien, banalisieren die Masturbationskurse den Sex noch mehr, als es die heutige Kultur des Spektakels schon geschafft hat. Am Ende machen sie Sex zu einer bloßen Übung, einer Verrichtung ohne jedes Geheimnis, losgelöst von Gefühl und Leidenschaften, und berauben so die künftigen Generationen einer Quelle der Lust, die von jeher die Fantasie und die Kreativität der Menschen reich beschenkt.
    Die allgemeine Trivialisierung beschädigt in gewisser Weise auch eine weitere bedeutende Errungenschaft unserer Zeit: die sexuelle Befreiung, die Befreiung der gelebten Erotik von Tabus und Vorurteilen. Denn wie in der bildenden Kunst und in der Literatur bedeutet das Verschwinden der Formen auch hier keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt, der die Freiheit verdirbt und den Sex ärmer macht, indem er ihn auf das Triebhafte und Animalische reduziert.
    Wie man sich selbst befriedigt, muss niemandem beigebracht werden, das entdeckt man für sich allein, und es gehört zu den Beschäftigungen, die das Private, die Intimsphäre begründen. Es reißt den Jungen oder das Mädchen aus der familiären Umgebung heraus, individualisiert und sensibilisiert sie, enthüllt ihnen die geheime Welt des Begehrens und lehrt sie etwas über so wesentliche Dinge wie das Unverletzliche, das Verbotene, den Körper und die Lust. Werden diese privaten Ritualezerstört und das Arkane und die Scham abgeschafft, die den Sexus immer schon begleitet haben, bekämpft man damit nicht ein Vorurteil, sondern nimmt dem Geschlechtsleben jene Dimension, die sich in dem Maße herausbildete, wie die Kultur und die Entwicklung der Künste es bereicherten und selbst zu einem Kunstwerk machten. Wer den Sex aus dem Schlafzimmer holt, um ihn öffentlich auszustellen, befreit ihn paradoxerweise nicht, sondern schickt ihn zurück in die Steinzeit, als die Paare, wie die Affen und die Hunde, noch nicht gelernt hatten, miteinander zu schlafen, sondern nur zu kopulieren. Die angebliche Befreiung der Sexualität – und hierzu gehört auch die Idee eines Masturbationsunterrichts in der Schule – mag dazu beitragen, manch dummes Vorurteil zum Onanieren aus der Welt zu schaffen. Gratulation. Aber sie könnte der Erotik auch einen weiteren Stoß versetzen, vielleicht gar den Todesstoß. Wer hätte dann gewonnen? Nicht die Libertären und nicht die Libertins, sondern die Puritaner und die Kirchen. Und es ginge weiter mit dem läppischen Liebesgetue, wie es für die heutige Kultur in der westlichen Welt so bezeichnend ist.
    Die Idee mit den Selbstbefriedigungskursen ist ein weiterer Meilenstein der Bewegung, die, um ihr eine Geburtsstunde zu geben (auch wenn sie tatsächlich älter ist), im Mai 1968 in Paris begann und die vorgibt, jene Hindernisse und Ressentiments religiöser und ideologischer Natur aus dem Weg zu räumen, die seit Urzeiten die Sexualität unterdrückt und zahllosen Menschen Leid gebracht haben, vor allem Frauen und sexuellen Minderheiten; die bei denen zu Frustration, Neurosen und anderen psychischen Störungen geführt haben, dieob der strengen Moral diskriminiert, verdammt und zu einer immer bedrohten Heimlichkeit verurteilt wurden.
    Im Westen hat diese Bewegung Heilsames bewirkt, keine Frage, in anderen Kulturen wie der islamischen dagegen hat sie die Verbote und die Unterdrückung noch verschärft. Der Jungfräulichkeitskult, der schwer wie ein Grabstein auf der Frau lastete, hat sich verflüchtigt, und dank dieses Umstands und der Verbreitung der Pille genießen die Frauen heute zwar nicht ganz dieselbe Freiheit wie die Männer, aber zumindest eine gewisse Selbstbestimmung, eine unendlich größere jedenfalls als ihre Großeltern oder ihre Geschlechtsgenossinnen in den islamischen

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