Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
der Freiheit des Menschen verbunden ist, sondern auch mit Gewalt, entdeckte ich, als ich all die Meister der erotischen Literatur las, die Guillaume Apollinaire in der von ihm betreuten Reihe Les maîtres de l’amour versammelte. Es war um das Jahr 1955, in Lima. Ich hatte gerade zum ersten Mal geheiratet und musste mir mehrere Jobs suchen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Am Ende hatte ich acht zusammen, während ich zugleich weiter an der Universität studierte. Der beschaulichste war, auf dem Friedhof Presbítero Maestro die Toten der kolonialen Grabstellen zu verzeichnen, deren Register in den Archiven der Öffentlichen Wohlfahrt verschollen waren. Sonn- und feiertags ging ich also mit einer kleinen Leiter, Karteikarten und Stiften zum Friedhof, und nachdem ich die alten Grabsteine erkundet hatte, fertigte ich Listen mit den Namen und Daten an; bezahlt wurde ich von der Wohlfahrt von Lima pro Verstorbenen. Der angenehmste meiner acht Brotjobs war jedoch nicht dieser, sondern eine Beschäftigung in der Bibliothek des Club Nacional. Der Bibliothekar war einer meiner Lehrer, der Historiker Raúl Porras Barrenechea, und meine Aufgabe bestand darin, von Montag bis Freitag jeweils zwei Stunden in dem eleganten Club zu verbringen, einem Symbol der peruanischen Oligarchie, das in jenen Jahren sein hundertjähriges Jubiläum feierte. Theoretisch sollte ich die Neuerwerbungen der Bibliothek katalogisieren, doch der Club Nacional erwarb in diesen Jahren, ob mangels Budget oder aus Desinteresse, fast keine Bücher mehr, so dass ich in meinenzwei Stunden schreiben und lesen konnte. Es waren die glücklichsten Stunden zu jener Zeit, in der ich von früh bis spät irgendwelche Dinge tat, die mich kaum oder gar nicht interessierten. Ich arbeitete nicht in dem schönen Lesesaal im Erdgeschoss des Clubs, sondern in einem Büro im dritten Stock. Dort entdeckte ich voller Seligkeit, verborgen hinter diskreten Wandschirmen und verschämten Vorhängen, eine prächtige Sammlung erotischer Bücher, fast alle französischer Herkunft, und so las ich die erotischen Briefe und Fantasien von Diderot und Mirabeau, den Marquis de Sade und Restif de la Bretonne, Andréa de Nerciat, Aretino, die Memoiren einer Sängerin , die Lebensgeschichte Casanovas, die Liebesabenteuer eines Engländers, Choderlos de Laclos’ Gefährliche Liebschaften und alle möglichen sonstigen Klassiker der erotischen Literatur.
Diese Literatur hat zwar ihre Vorläufer, aber der Durchbruch gelang ihr in Europa erst im achtzehnten Jahrhundert, auf dem Höhepunkt der philosophes mit ihren großen, die Moral und die Politik erneuernden Theorien, ihrem Angriff auf den religiösen Obskurantismus und ihrer leidenschaftlichen Verteidigung der Freiheit. Philosophie, Aufstand, Lust und Freiheit waren es, was diese Denker und Künstler in ihren Schriften forderten und praktizierten, Menschen, die sich stolz zu der Bezeichnung »Libertins« bekannten, mit der man sie belegte, durchaus daran erinnernd, worauf Bataille später hinweist, dass mit dem Wort einmal jene geschmäht wurden, die Gott und die Religion im Namen der Freiheit missachteten oder herausforderten.
Die libertine Literatur ist natürlich sehr ungleich, mit Meisterwerken ist sie nicht allzu reich gesegnet, auchwenn sich unter den vielen künstlerisch belanglosen oder nichtigen durchaus Schriften und Romane von Rang finden. Was ihrer Qualität im Allgemeinen Grenzen setzt, ist die obsessive und ausschließliche Fokussierung auf die Beschreibung sexueller Erfahrungen. Bücher, die nur erotisch sind, wirken rasch redundant und monomanisch, denn ein so intensiver und wunderbarer Quell der Freuden das Ausleben der Sexualität auch sein mag, sind die Möglichkeiten nun mal begrenzt, und wenn man sie von den übrigen Aktivitäten und Funktionen abtrennt, die das Leben bestimmen, zeigt sie nur noch einen ausschnitthaften, unechten, karikaturesken Wesenszug der menschlichen Natur.
Dessen ungeachtet hallt in der libertinen Literatur immer ein Schrei nach Freiheit wider, gegen alle religiöse, moralische oder politische Unterwerfung und Knechtschaft, die das Recht auf freien Willen, auf politische und gesellschaftliche Freiheit und auf die Lust einschränkt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wird es eingefordert: das Recht auf Verwirklichung sexueller Fantasien und Begierden. Bei alldem ist es das große Verdienst der eintönigen Romane des Marquis de Sade, aufzuzeigen, wie der Sex, wenn er ohne jede
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