Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Ländern und der Dritten Welt. Außerdem sind die Vorurteile gegen Homosexuelle und deren Verdammung zwar nicht ganz verschwunden, aber doch leidlich, und die gesetzlichen Bestimmungen, die bis vor wenigen Jahren homosexuelle Handlungen unter Strafe stellten, wurden gestrichen. Nach und nach wird in den westlichen Ländern die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern zugelassen, und sie haben die gleichen Rechten wie heterosexuelle Paare einschließlich des Rechts, Kinder zu adoptieren. Immer mehr setzt sich auch der Gedanke durch, dass in der Sexualität das, was Erwachsene im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und in freier Entscheidung untereinander tun oder lassen, ihre eigene Sache ist und dass niemand, angefangen beim Staat und bis hin zu den Kirchen, sich hier einmischen soll.
All das bedeutet einen Fortschritt, klar. Aber es ist ein Irrtum, wie die Vorkämpfer dieser »Befreiungsbewegung« zu glauben, der Sex werde, wenn man ihn entweiht, ihn der Scham und der Rituale entkleidet undjede symbolische Überschreitung abschafft, zu einer gleichsam gesunden und normalen Praxis.
Gesund und normal ist Sex nur unter Tieren. Er war es bei den Zweibeinern, als wir noch keine richtigen Menschen waren, als Sex bei uns kaum mehr als ein Abreagieren von Trieben war, eine physische Entladung von Energie, welche die Fortpflanzung gewährleistete. Die Entanimalisierung der Spezies war ein langer und komplizierter Prozess, und eine entscheidende Rolle spielte dabei, was Karl Popper die »Welt 3« nannte – die Welt der Kultur und der Erfindung –, das langsame Hervortreten des souveränen Individuums, die Emanzipation von seinem Stamm, geprägt von Neigungen, Veranlagungen, Sehnsüchten und Wünschen, die ihn von den anderen unterschieden und als einzigartiges und unverwechselbares Wesen konstituierten. Sexualität spielte bei alldem eine Hauptrolle, und wie Freud zeigte, festigt sich hier unser Eigenstes. Es ist dies ein verborgener, ein privater Bereich, und wir sollten darauf bedacht sein, dass er es auch bleibt, wenn wir nicht eine der größten Quellen der Lust und der Kreativität, mithin der Zivilisation, zum Versiegen bringen wollen.
Erotik lässt sich auf vielerlei Weise definieren, aber der vielleicht wichtigste Punkt ist eben die Entanimalisierung der körperlichen Liebe, wie sie im Laufe der Zeit möglich wurde, ihre Verwandlung von der bloßen Triebbefriedigung in eine kreative und gemeinsame Tätigkeit, welche die körperliche Lust verlängert und überhöht, indem sie sie mit einem solchen Raffinement inszeniert, dass sie zu einem Kunstwerk wird.
Bei wohl keiner anderen Betätigung hat man zwischen Tierischem und Menschlichem eine so klare Grenzegezogen wie beim Sex. Am Anfang, in grauer Vorzeit, gab es die Unterscheidung nicht, beides vermischte sich in einer fleischlichen Verbindung ohne Geheimnis, ohne Anmut, ohne Zartheit und Liebe. Die Humanisierung des Lebens ist ein langer Prozess, auf den die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die philosophischen und religiösen Vorstellungen und die Entwicklung der Künste immer einwirken. Und dabei ändert sich nichts so sehr wie das Sexualleben. Es ist immer ein Ferment der künstlerischen Kreation gewesen, und umgekehrt haben Malerei, Literatur, Musik, Bildhauerei, Tanz, alle künstlerischen Äußerungen der menschlichen Vorstellungskraft zur Bereicherung der Lust beigetragen. Es ist gewiss nicht zu hoch gegriffen, wenn man sagt, dass die Erotik einen Gipfelpunkt der Zivilisation darstellt und dass sie diese auf entscheidende Weise mitbestimmt. Um zu erfahren, wie primitiv oder kultiviert eine Gemeinschaft ist, eignet sich nichts besser, als ihre Bettgeheimnisse zu erkunden und herauszufinden, wie die Menschen miteinander schlafen.
Erotik hat nicht nur die edle Funktion, die körperliche Lust zu bereichern und einen weiten Fächer an Möglichkeiten aufzuschlagen, die es erlauben, verschiedenste Wünsche und Fantasien zu befriedigen. Sie holt auch die destruktiven, im Irrationalen lauernden Gespenster ans Licht. Freud nannte sie Thanatos, Todestriebe, die mit den Lebenstrieben, Eros, um die Hoheit streiten. Sich selbst überlassen, ohne jede Zügelung, könnten diese Ungeheuer des Unbewussten, die in der Sexualität hervortreten und ihr Recht einfordern, zu den schlimmsten Formen der Gewalt führen (wie jene, die die Romane des Marquis de Sade mit Blut und Leichen überschwemmen), ja, selbst zum Verschwinden der Art.
Dass die Erotik nicht nur untrennbar mit
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