Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
ein Sex, der die sofortige Befriedigung sucht, ohne Verzug, ohne Ausflüchte, Getue oder Ablenkung, ein Sex der Hungernden und Unnachgiebigen, nicht der Träumer oder Genießer, ein machistischer Sex, wie er im Buche steht, bei dem männliche Homosexualität nicht vorkommt und die weibliche einzig zum Vergnügen des Voyeurs. Sex von Männern und für Männer, geil und primitiv, und der Phallus ist König. Die Frau ist zum Dienen da, es geht nicht darum, dass sie selber Lust empfindet, sie soll Lust bereiten, die Beine breit machen und sich den Launen des Bocks unterwerfen, vor dem sie oftmals, bei einer Fellatio, auf Knien erscheint, das Urbild dieser sexuellen Spielart: Während sie Lust spendet, ergibt sich das Weib und verehrt den allmächtigen Mann. Der Phallus, rufen diese Bilder, ist vor allem Macht.
    Der bevorzugte Ort für das Ausleben einer solchen sexuellen Lust ist natürlich das Bordell. Keine gefühligen Ablenkungen für diesen Trieb, der einen körperlichen Drang befriedigen will, und dann wird vergessen und zu anderem übergegangen. Im Bordell, wo Sex gekauft und verkauft wird, gibt es weder Verbindliches, noch will irgendetwas moralisch oder affektiv gerechtfertigt werden, der Sex entfaltet sich in seiner ganzen ungeschminkten Wahrheit, als reine Gegenwart, wie eine schamlose Übung, die keine Spur in der Erinnerung hinterlässt, pure, flüchtige Kopulation, frei von Gewissensbissen und Sehnsucht.
    Die sich wiederholenden Bilder dieses vulgären und fantasielosen Bordellsex, welche Hefte, Kartons, Leinwände bedecken, wären monoton ohne die heiteren Prahlereien, die immer wieder in ihnen aufscheinen, Scherze und lustige Übertreibungen, die von einem verzückten, glücklichen Gemüt zeugen. Ein obszöner Fisch, eine Makrele – maquereau , Zuhälter! – leckt ein gefälliges, aber zu Tode gelangweiltes Mädchen. Es sind Bilder von fröhlicher Vitalität, überschwängliche Manifeste des Lebens. Und in allen, selbst in den raschen Skizzen, hingeworfen im Trubel eines Festes auf Servietten, Speisekarten, Zeitungsausschnitte, um einen Freund zu amüsieren oder von einer Begegnung Zeugnis abzulegen, blitzt das Geschick dieser meisterlichen Hand auf, das Treffsichere eines scharfen Blicks, das es vermag, mit ein paar wenigen wesentlichen Strichen die aus den Fugen fliegende Wirklichkeit einzufangen. Die Apotheose des Bordells in Picassos Werk ist natürlich Les Demoiselles d’Avignon ; es wird in der Ausstellung zwar nicht gezeigt, dafür aber viele der zahllosen Skizzen sowie vorläufige Versionen dieses außerordentlichen Gemäldes.
    Mit den Jahren legt sich die sexuelle Derbheit, lädt sich auf mit Symbolen, die Lust geht ein in Gestalten der Mythologie. All die Minotaurus-Motive in den Grafiken und Gemälden der dreißiger Jahre sprühen vor Sinnlichkeit und einer sexuellen Kraft, die ihre Unzucht so anmutig wie schamlos ausstellt, Zeichen von Lebendigkeit und künstlerischer Kreativität. In Raphaël et la Fornarina dagegen, der Ende der Sechziger entstandenen wunderbaren Serie von Radierungen, sind die Liebesgeplänkel des Malers und seines Modells unter den lüsternen Augen eines alten Pontifex, der mit seinem schlaffen Fleisch auf einem Nachttopf sitzt,durchdrungen von einer unterschwelligen Traurigkeit. Hier ist es nicht nur die glückliche Hingabe der jungen Menschen in der körperlichen Liebe, der Wollust, die sich mit der künstlerischen Tätigkeit vermischt, sondern auch die Melancholie des Betrachters, den die Jahre im Liebesturnier aus dem Spiel genommen haben, eines Exkämpfers, dem als einzige Freude die Betrachtung der fremden Lust bleibt, während er spürt, wie das Leben verrinnt und dem Tod des Geschlechtstriebs bald der andere folgt, der vollständige, endgültige. Das Thema taucht in Picassos letzten Jahren immer wieder auf, und die Ausstellung im Jeu de Paume zeigt es in Bildern, in denen oftmals mit anrührender, beklemmender Eindringlichkeit die untröstliche Sehnsucht nach der verlorenen Männlichkeit aufscheint, die Bitterkeit um das Wissen, vom unheilvollen Lauf der Zeit gehindert zu sein an diesem schwindelnden Eintauchen in die Quelle des Lebens, diese Explosion der reinen Lust, die dem Menschen eine Ahnung von der Sterblichkeit gibt und welche die Franzosen nicht ohne Ironie la petite mort nennen, den »kleinen Tod«. Jener sinnbildliche Tod und der andere, der des absoluten Endes und des körperlichen Erlöschens, sind die Protagonisten dieser dramatischen Bilder, die

Weitere Kostenlose Bücher